Das Jahr 2017 hat gerade erst angefangen. Was es uns allen bringen wird, wissen wir nicht. Aber wir wissen zumindest, was 2017 nicht passieren wird: Der Nobelpreis für Physik wird definitiv nicht an Vera Rubin verliehen werden. Denn die amerikanische Astronomin verstarb am 25. Dezember 2016 nach einer langen und sehr erfolgreichen wissenschaftlichen Karriere. Eine Karriere, die eigentlich mit dem bedeutendsten Preis der Naturwissenschaft gewürdigt werden hätte müssen. Aber Rubin hat den Nobelpreis nie bekommen und wird ihn nun auch nicht mehr bekommen können.
Über den wichtigsten Teil von Rubins Arbeit habe ich früher schon mal geschrieben; möchte aber den Anlass nutzen um noch einmal darauf hinzuweisen, was sie geleistet hat. In diversen Nachrufen wird Rubin gerne als die “Entdeckerin” der Dunklen Materie bezeichnet. Oder als diejenige, die den Nachweis der Existenz dunkler Materie erbracht hat. Beides ist nicht richtig; obwohl die zweite Aussagen schon wesentlich näher an der Wahrheit ist als die erste.
Schon in den 1930er Jahren hat der Astronom Fritz Zwicky Hinweise auf die Existenz einer neuen Art von Materie gefunden. Die Idee, dass es so etwas wie “dunkle Materie” geben könnte, war also schon vorhanden, als Rubin mit ihrer Ausbildung begann.
Die junge Astronomin arbeitete in den 1960er Jahren an einem seltsamen und umstrittenen Thema. Sie wollte herausfinden, ob sich das Universum dreht. Dafür vermaß sie die Bewegung und Drehrichtung vieler Galaxien – wurde aber mit ihrer Arbeit fürs Erste von den meisten Wissenschaftlern ignoriert. Die Daten waren nicht allzu eindeutig (das sind sie heute immer noch) und das Thema eher etwas für Außenseiter. Und dass Vera Rubin eine Frau war, half ihr in der männerdominierten Wissenschaft der 1960er Jahre auch nicht unbedingt weiter (sie durfte teilweise nicht mal an den großen Teleskopen beobachten, weil Frauen dort wegen “fehlender Sanitäreinrichtungen” nicht zugelassen waren). Rubin wurde zwar von Größen wie George Gamow oder Gérard-Henri de Vaucouleurs unterstützt; entschied sich dann aber doch, zu einem anderen Arbeitsgebiet zu wechseln. Sie blieb den Galaxien aber trotzdem treu; nur untersuchte sie nun, wie sich die Sterne dort bewegen. Ihr erstes Beobachtungsobjekt war die Andromedagalaxie (M31), unser galaktischer Nachbar im All.
Sterne, die das Zentrum einer Galaxie umkreisen sollten sich im Prinzip so verhalten, wie Planeten, die einen Stern umkreisen. Je näher ein Planet seinem Stern ist, desto schneller bewegt er sich. Merkur, der sonnennächste Planet braucht nur 88 Tage für eine Runde. Bei der Erde sind es bekanntermaßen 365 Tage und der ferne Neptun braucht ganze 165 Jahre. Dieses Verhalten folgt direkt aus dem Newtonschen Gravitationsgesetz bzw. Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie. Je weiter man sich von einem schweren Objekt entfernt, desto geringer ist der Einfluss seiner Gravitationskraft. In einer Galaxie sollte es eigentlich so ähnlich sein. Je weiter entfernt sich ein Stern vom Zentrum befindet, desto schwächer spürt er den Einfluss der Gravitationskraft und desto langsamer sollte er sich bewegen. Rubin probierte nun, die sogenannte “Rotationskurve” von Andromeda zu messen. Sie bestimmte die Umlaufgeschwindigkeit von Sternen in unterschiedlichem Abstand zum Zentrum und erwartete, dass die Geschwindigkeit mit zunehmenden Abstand immer kleiner wird. Gemessen hat sie dann aber das hier:
Dieses berühmte Diagramm stammt aus der Arbeit “Rotation of the Andromeda Nebula from a Spectroscopic Survey of Emission Regions” die Rubin im Jahr 1970 veröffentlichte. Die x-Achse zeigt den Abstand zum Zentrum der Galaxie (die Einheiten sind oben in Kiloparsec angegeben und unten in Bogenminuten). Und man erkennt deutlich, dass die Kurve im rechten Bereich des Diagramms nicht nach unten abfällt, wie man es erwarten würde, sondern im wesentlichen gerade verläuft.
Rubin und ihre Kollegen beobachten im Laufe der Zeit immer mehr Galaxien und überall fanden sie das selbe Verhalten: Die Sterne in den äußeren Bereichen der Galaxien bewegten sich zu schnell! Auch Beobachtungen anderer Wissenschaftler im Radiowellenbereich des elektromagnetischen Spektrums zeigten diese seltsame Bewegung. Die Daten schienen zu zeigen, dass die sichtbare Materie in der Galaxie nicht alles sein konnte. Es musste auch dort noch Materie vorhanden sein, wo die leuchtende Materie längst zu Ende ist. Die Galaxien schienen in eine große Wolke aus “dunkler Materie” eingebettet zu sein und der gravitative Einfluss dieser dunklen Materie führte dazu, dass sich die Sterne schneller bewegten, als man erwarten würde.
“Nobody ever told us that all matter radiated. We just assumed that it did.”
sagte Vera Rubin – und hatte damit Recht. Man war bis dahin einfach davon ausgegangen, dass jede Materie auch mit Licht wechselwirkt; also entweder selbst Licht abgibt oder aber zumindest Licht reflektiert und damit sichtbar ist. Aber wer sagt, dass das so sein muss? Warum sollte es nicht auch Materie geben, die das nicht tut? Alle Beobachtungen deuteten jedenfalls darauf hin. Man hatte nun schon Daten auf zwei völlig verschiedenen Größenskalen: Einerseits die Bewegung von Galaxien in Galaxienhaufen, die Zwicky 1933 beobachtet hatte. Andererseits die Bewegung Sternen in Galaxien, die von Rubin und diversen anderen Astronomen ab den 1970er Jahren analysiert wurde. Beide zeigten, dass sich die Himmelskörper so verhielten, als gäbe es neben der normalen, sichtbaren Materie auch noch eine “dunkle Materie”, die nicht leuchtet. Beide Beobachtungen kamen unabhängig voneinander zum gleichen Ergebnis (und stimmten auch noch in der Menge der dunklen Materie überein, die vorhanden sein musste).
Die Arbeit von Rubin war deswegen so bedeutend, weil sie die Existenz eines Phänomens klar und deutlich belegen konnte. Das Phänomen war eine Bewegung von Sternen und Galaxien, die nicht mit der von der Gravitationstheorie vorhergesagten Bewegung übereinstimmt. Ihre Arbeit stellt keine “Entdeckung” dunkler Materie dar (was sie selbstauch nie behauptet hat) – das ist etwas, das uns bis heute nicht gelungen ist. Wir sehen zwar überall im Universum Phänomene die so aussehen, als würden sie von einer noch unentdeckten Art von Materie verursacht. Diese Phänomene zeigen sich auf allen Größenskalen; vom Verhalten des Universums als Ganzes bis hin zur subatomaren Welt der Teilchen. Die Phänomene werden von unterschiedlichen Methoden aus unterschiedlichen Disziplinen unabhängig voneinander beobachten und kommen dabei zu den gleichen Befunden. Theorien aus verschiedenen Ecken der Naturwissenschaften sagen die Existenz von Teilchen voraus, die genau die Eigenschaften hätten, die beobachteten Phänomene zu erklären. Die Indizienlage ist also ziemlich eindeutig – aber bevor die konkreten Teilchen der dunklen Materie nicht auch ebenso konkret in Teilchendetektoren nachgewiesen werden können, ist die dunkle Materie nicht “entdeckt”.
In Sachen Nobelpreis sollte das eigentlich keine Rolle spielen. Das Phänomen selbst, das Vera Rubin entdeckt und bestätigt hat, ist unzweifelhaft vorhanden; unabhängig von der Erklärung. So wie das ja auch beim Phänomen der beschleunigten Expansion des Universusm (aka “dunkle Energie”) der Fall ist, für dessen Entdeckung der Nobelpreis des Jahres 2011 verliehen wurde. Die Suche nach einer Erklärung der Beobachtung von Rubin und ihren Nachfolgern hat die Astronomie maßgeblich beeinflusst und voran gebracht. Egal wohin diese Forschung am Ende führen wird: Unser Bild vom Universum wird sich fundamental verändert haben.
Beziehungsweise: Unser Bild des Universums hat sich durch die Arbeit von Vera Rubin schon fundamental verändert. Und dafür hätte sie die Auszeichnung mit dem Physik-Nobelpreis mehr als verdient. Das Nobelpreiskomitee hat wieder einmal die Chance verpasst, die preiswürdige Forschungsleistung einer Frau zu ehren und muss sich weiterhin vorwerfen lassen, die Arbeit von forschenden Frauen zu ignorieren. Nach Marie Curie und Maria Goeppert-Mayer hätte Vera Rubin die dritte Physik-Nobelpreisträgerin sein sollen! Noch besser wäre es allerdings gewesen, wenn sie nicht die dritte Preisträgerin geworden wäre, sondern die siebte, dreizehnte oder sechsundzwanzigste! Es ist eine Schande, dass seit 1963 keine Frau mehr mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet worden ist. Und es ist eine Schande, dass eine so eindeutig preiswürdige Kandidatin wie Vera Rubin in all den Jahren nie ausgezeichnet wurde!
P.S. Ebenfalls unerfreulich ist die Tatsache, dass es kaum populäre Literatur über Rubin gibt; es gibt nur eine * Autiobiografie von ihr, die nur noch antiquarisch und teuer erhältlich ist. Es gibt nichtmal wirklich gute Bilder von ihr unter einer freien Lizenz! Aber ihr könnt euch zumindest die Astronomy-Cast-Folge über ihr Leben und ihre Arbeit ansehen:
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