Vor zwei Jahren habe ich darüber geschrieben, dass die Teilchenphysik ein wenig in der Krise steckt. Am großen Teilchenbeschleuniger LHC des europäischen Kernforschungszentrums CERN hat man zwar 2012 – wie erwartet – das Higgs-Teilchen nachweisen können. Und seitdem jede Menge interessante Forschung betrieben. Aber es fehlen die wirklich großen Entdeckungen. Man hat nichts fundamental Neues entdeckt. Man war sich zum Beispiel ziemlich sicher, Teilchen zu entdecken, von der Supersymmetrie-Hypothese vorhergesagt werden – aber davon hat man sich mittlerweile mehr oder weniger verabschiedet.
Natürlich ist der LHC nicht alles, was die moderne Teilchenphysik ausmacht! Es gibt jede Menge andere Forschung mit vielversprechenden Ergebnissen. Zum Beispiel Hinweise auf “sterile” Neutrinos, die “Neutrinowaage” KATRIN in Karlsruhe, und so weiter. Aber irgendwann werden wir wirklich neue Entdeckungen brauchen. Wir wissen, das es in der theoretischen Physik jede Menge offene Fragen gibt. Zum Beispiel:
- Aus welchen Teilchen besteht die dunkle Materie?
- Warum gibt es im Universum so viel mehr Materie als Antimaterie?
- Warum gibt es drei Generationen von Teilchen und nicht mehr (oder weniger)?
- Wie kann man die Gravitation quantenmechanisch beschreiben?
- Warum ist die Gravitation so viel schwächer als die anderen Kräfte?
- …
Zu all diesen Fragen gibt es jede Menge Hypothesen. Aber ohne Daten haben wir kaum eine Möglichkeit um herauszufinden, welche davon korrekt sind und welche nicht. Die meisten Hypothesen machen Vorhersagen über noch zu entdeckende Teilchen. Die hat man aber bis jetzt noch nicht entdeckt. Und in der Teilchenphysik geht es bei Entdeckungen immer vor allem um Eines: Die Größe!
Ganz vereinfacht gesagt: Jedes Teilchen hat eine gewisse Masse die einer gewissen Energie entspricht. Wenn man in einem Teilchenbeschleuniger Teilchen miteinander kollidieren lässt, wird bei diesen Kollisionen Energie freigesetzt. Aus dieser Energie können neue Teilchen entstehen und zwar im Prinzip (ich ignoriere jetzt mal ein paar Erhaltungssätze und andere spezifische Einschränkungen die von den Details der Kollisionen abhängen) jedes Teilchen, dessen Masse kleiner als die freigesetzte Energie ist. Das Higgs-Teilchen zum Beispiel hat eine so große Masse, dass man erst einen Beschleuniger wie den LHC bauen musste, um ausreichend Energie freizusetzen, damit es bei den Kollisionen auftauchen kann. Bei kleineren Beschleunigern hätte man noch so viele Teilchen aufeinander schießen können ohne das sich je ein Higgs blicken lassen hätte.
Es ist durchaus möglich, dass da draußen jede Menge neue Physik auf uns wartet, die aber derzeit schlicht und einfach außerhalb unserer Reichweite ist. Das Problem an der Sache: Wir wissen nicht genau, wann sie in unsere Reichweite gelangen. Wir wissen nicht, wie groß wir einen Beschleuniger bauen müssen, um mit Sicherheit etwas Neues zu sehen. Vielleicht müssen wir erst einen Beschleuniger bauen, der so groß wie die ganze Erde ist – oder gar so groß wie die gesamte Galaxis – bevor sich neue Physik zeigt.
Wenn Teilchenphysiker also darüber nachdenken, neue und größere Beschleuniger zu bauen, dann tun sie das nicht, weil ihnen nichts besseres einfällt um das viele Geld (das sie sowieso nicht haben) auszugeben. Sondern weil es derzeit keinen anderen Weg zu geben scheint, mehr über die fundamentale Struktur des Universums herauszufinden. Momentan ist der LHC mit einer Länge von 27 Kilometern der größte Beschleuniger. Der Tunnel in dem er sich befindet liegt bis zu 175 Meter unter der Erdoberfläche und wurde in den 1980er Jahren gebaut (damals noch für einen anderen Beschleuniger). 1994 hat man mit dem Bau des LHC begonnen und 2008 wurde er fertig gestellt. 9300 supraleitende Magnete werden mit mehr als 10.000 Tonnen flüssigem Helium gekühlt. Im Inneren des Beschleunigers herrscht ein Vakuum, das so leer ist wie der Weltraum. Mehr als eine Milliarde Teilchen kollidieren dort pro Sekunde. Der LHC ist vermutlich die komplizierteste Maschine, die wir je gebaut haben. Und es ist schwer, sich einen noch größeren Beschleuniger vorzustellen.
Doch genau das tun die Wissenschaftler natürlich. Der potentielle Nachfolger des LHC trägt derzeit den Namen “FCC”, was für “Future Circular Collider” steht. Ob, wann und wo das Ding gebaut werden wird, ist noch nicht klar. Aber irgendwann man muss man anfangen darüber nachzudenken, sonst passiert mit Sicherheit nichts. Und bei so etwas wie dem FCC muss man lange nachdenken. Der Beschleuniger soll 100 Kilometer lang sein. Das ist ein Kreis mit einem Durchmesser von 32 Kilometern. Damit kann man Teilchen bei sieben Mal höheren Energien zur Kollision bringen als am LHC. Das klingt alles enorm abstrakt und es ist schwer sich konkret vorzustellen, was der Bau so einer Maschine bedeutet.
Ich könnte jetzt eine lange Liste mit technischen Details aufschreiben. Aber auch das vermittelt nicht die Ungeheuerlichkeit der Ausmaße so einer Maschine. Aber vielleicht kann man es so vermitteln: Stellt euch vor ihr baut einen Ring mit einem Durchmesser von 32 Kilometern. Eine enorme metallische, kreisförmige Röhre und stellt sie euch nicht unterirdisch vor, wie es in der Realität der Fall wäre. Sondern auf der Erdoberfläche liegend. Nur: Das geht nicht! Der Ring, aus dem der FCC besteht kann schlicht und einfach nicht auf der Erdoberfläche liegen! Dafür ist er zu groß. (Und ja, ich weiß: Ein Ring KANN auf der Oberfläche einer Kugel liegen. Aber hier geht es nicht um Geometrie und ein Beschleuniger ist mehr als ein simpler Ring. Sondern eine enorm große Maschine mit jeder Menge Zeug um den Ring herum; über dem Ring und im Inneren des Rings. Wenn es einfacher vorstellbar ist: Stellt euch keinen Ring vor, sondern eine Scheibe.) Denn die Erde ist eine Kugel und die Oberfläche gekrümmt. Das bemerken wir im Alltag nur selten, weil wir im Vergleich zum ganzen Planeten so klein sind, dass uns die gekrümmte Oberfläche wie eine Ebene vorkommt. Aber der FCC würde es merken. Genau so wenig wie man ein gerades Stück Metall auf einen Ball legen kann so das Metall und Ball sich überall berühren, kann der FCC-Ring/Scheibe so auf der gekrümmten Erdoberfläche liegen, dass er überall Kontakt mit dem Boden hat.
Wenn ein Punkt des Rings/der Scheibe auf dem Boden liegt, dann würde der genau 32 Kilometer weit entfernte gegenüberliegende Punkt 80 Meter (!) hoch in der Luft schweben! Da passt ein ganzes Hochhaus drunter! Das gleiche gilt übrigens für den International Linear Collider, der kein Ring sondern eine 34 Kilometer lange gerade Strecke ist. Nur dass er eben KEINE gerade Strecke sein kann, weil auch hier die Erdkrümmung im Weg steht.
Sowohl der LHC als auch der FCC befinden sich tief unter der Erde und liegen nicht wackelnd auf der Erdoberfläche rum. Aber die Krümmung der Erdoberfläche muss man beim Bau dieser Tunnel natürlich trotzdem berücksichtigen. Und das ist etwas, über das man gerne mal länger nachdenken darf: Wir Menschen sind in der Lage so gewaltige Maschinen zu bauen, dass sie nicht einfach mehr irgendwo auf unserem Planeten abgestellt werden können, weil sie sonst wackeln würden…
P.S. Einen Online-Rechner zur Bestimmung der Erdkrümmung gibt es zum Beispiel hier.
Alle Artikel aus der Serie “Erdkugelgeschichten”
Einleitung: Die Erde ist nicht flach und das ist gut so
Sternengeschichten Folge 293: Al-Biruni und die Größe der Erdkugel (erscheint am 06.07.2018)
Erdkugelgeschichten 01: Das Kreuz des Südens und der Himmel auf der anderen Hälfte der Erde (erscheint am 09.07.2018)
Erdkugelgeschichten 02: Der Sonnenuntergang kommt später als man denkt (erscheint am 10.07.2018)
Erdkugelgeschichten 03: Zu groß um flach zu sein: Der Future Circular Collider und die Zukunft der Teilchenphysik (erscheint am 11.07.2018)
Erdkugelgeschichten 04: Perseiden, Sternschnuppen und Plädoyer für das frühe Aufstehen (erscheint am 12.07.2018)
Sternengeschichten Folge 294: Warum sind Planeten rund? (erscheint am 13.07.2018)
Erdkugelgeschichten 05: Terraforming Mars: Wie kriegt ein Planet ein Magnetfeld? (erscheint am 16.07.2018)
Erdkugelgeschichten 06: Mach es wie die Sonnenuhr: Zeitmessung für alle! (erscheint am 17.07.2018)
Erdkugelgeschichten 07: Der blaue Himmel, die rote Sonne und die runde Erde (erscheint am 18.07.2018)
Erdkugelgeschichten 08: Flache Erde oder Erdkugel – Wer profitiert von der Verschwörung? (erscheint am 19.07.2018)
Sternengeschichten Folge 295: Mondfinsternisse und der “Blutmond” (erscheint am 20.07.2018)
Kommentare (67)