Ein richtig schöner, kitschiger Sonnenuntergang. Irgendwo im Sommer, im Süden wo es warm ist und über dem Meer. Dort, wo man – am besten mit einem kühlen Getränk in der Hand – der Sonne so richtig lang beim Untergehen zusehen kann. Bis sie dann endgültig hinter dem Horizont verschwunden ist. Und das beste: Der Sonnenuntergang kommt immer später als man denkt. Oder anders gesagt: Die Sonne ist eigentlich schon längst hinter dem Horizont verschwunden, obwohl wir sie trotzdem noch sehen können.
Das hat drei Gründe. Erstens: Die Erde ist eine Kugel, die sich von Westen nach Osten dreht. Zweitens: Die Erde ist von einer Atmosphäre umgeben bei der die Dichte der Luftschichten immer geringer wird, je weiter man sich vom Erdboden entfernt. Drittens: Licht bewegt sich in unterschiedlich dichten Medien unterschiedlich schnell.
Aus der ersten Tatsache folgt, dass es überhaupt so etwas wie einen Sonnenuntergang gibt. Die Sonne geht im Osten auf und wandert Richtung Süden über den Himmel bevor sie im Westen wieder hinter dem Horizont verschwindet. Aber so sieht es natürlich nur für uns aus, die wir uns mit der Erde gemeinsam drehen. Tatsächlich steht die Sonne einfach dort, wo sie sich befindet und bewegt sich nicht (bzw. kaum, aber das spielt jetzt keine Rolle für die Frage nach dem Sonnenuntergang). Wir sehen den Sonnenaufgang, wenn wir uns mit der Erde gemeinsam ins Licht der Sonne drehen und sehen die Sonne untergehen, wenn wir uns wieder aus dem Licht hinaus drehen.
Das Licht, das uns während des Tages von der Sonne aus dem Weltall erreicht, muss aber erst einmal die Atmosphäre der Erde durchqueren, bis wir es am Erdboden sehen können. im Weltall herrscht Vakuum, unten am Boden finden wir in jedem Kubikmeter ungefähr 1,2 Kilogramm Luft. Interessant ist das, was dazwischen passiert. Mehr als die Hälfte der gesamten Masse der Atmosphäre befindet sich in einer Höhe die geringer als 5 Kilometer ist. 90 Prozent der Atmosphäre liegen unterhalb von 20 Kilometer. Und noch weiter oben dünnt die Atmosphäre immer weiter aus. Vom Weltall kommend muss das Licht der Sonne also unterschiedlich dichte Luftschichten durchqueren. Es muss vor allem in immer dichtere Schichten vordringen, bis es am Boden angekommen ist.
Im Vakuum des Alls bewegt sich Licht mit einer Geschwindigkeit von 299792,458 Kilometer pro Sekunde fort. Bewegt sich aber in einem Medium, wie zum Beispiel Luft, wird es langsamer. Und zwar um so langsamer je dichter das Medium ist. Das Sonnenlicht wird also beim Durchgang durch die Erdatmosphäre immer stärker gebremst. Das äußerst sich in einer Richtungsänderung. Dieses Phänomen nennt man “Lichtbrechung” oder “Refraktion”. Wir nutzen es zum Beispiel, um Linsen herzustellen, die den Weg von Lichtstrahlen gezielt verändern – was all diejenigen gut finden dürften, die eine Brille tragen um die fehlerhaften Lichtbrechungseigenschaften ihrer Augen auszugleichen.
Wichtig ist dabei das ein Lichtstrahl, der von einem dünneren in ein dichteres Medium übergeht, immer zum Lot hingebrochen wird. Das heißt für unseren Fall: Das Sonnenlicht wird nach unten abgelenkt. Anstatt in einer geraden Linie von der Sonne zum Erdboden wird ein Lichtstrahl also in der Atmosphäre ein wenig gekrümmt; in die selbe Richtung in die auch die Erdoberfläche gekrümmt ist (wobei die Erdkrümmung aber stärker ist als die Refraktion). Auf dem Erdboden sehen wir den Lichtstrahl also aus einer Richtung kommend, aus der er eigentlich gar nicht gekommen ist. Uns erscheint es so, als käme er von einem Ort der höher über dem Horizont liegt als der Ort, an dem er ursprünglich ausgesandt worden ist.
Oder anders gesagt: Ein Himmelskörper wie die Sonne erscheint uns aufgrund der Lichtbrechung in der Erdatmosphäre immer ein Stück höher am Himmel als es real der Fall ist. Wie stark die Lichtbrechung exakt ist, hängt von vielen Faktoren ab. Der Temperatur der Luft, Turbulenzen in der Atmosphäre, der Höhe von der aus wir beobachten, aber vor allem auch davon, welchen Weg das Licht genau durch die Lufthülle zurück legen muss. Steht die Sonne mittags direkt über unseren Köpfen, kommt das Licht also in senkrechter Linie genau von oben, dann gibt es gar keine Lichtbrechung. Wenn das Licht aber abends und morgens vom Horizont kommt und dabei waagrecht die diversen Luftschichten durchqueren (und einen viel längeren Weg durch die Atmosphäre zurück legen) muss, dann ist die Brechung stark.
Beim Sonnenuntergang erscheint uns die Sonne ungefähr 0,6 Grad höher am Himmel als sie es eigentlich ist. Der scheinbare Durchmesser der Sonne beträgt selbst aber nur 0,5 Grad. Das bedeutet: Wenn die Sonne schon in vollem Umfang unter dem Horizont steht, also eine “Höhe” von -0,5 Grad hat, dann sehen wir sie trotzdem noch über dem Horizont stehen!
Weil wir auf einer rotierenden Kugel leben, muss die Sonne einmal am Tag untergehen. Aber weil wir eine schön geschichtete Atmosphäre haben, tut sie das später als sie es eigentlich sollte. Und auch beim Aufgang gilt: Wenn wir die Sonne schon über dem Horizont stehen sehen, ist sie eigentlich noch gar nicht aufgegangen. Wir kriegen als mehr Licht von der Sonne, als uns eigentlich zusteht. Und das ist doch sehr nett!
Alle Artikel aus der Serie “Erdkugelgeschichten”
Einleitung: Die Erde ist nicht flach und das ist gut so
Sternengeschichten Folge 293: Al-Biruni und die Größe der Erdkugel (erscheint am 06.07.2018)
Erdkugelgeschichten 01: Das Kreuz des Südens und der Himmel auf der anderen Hälfte der Erde (erscheint am 09.07.2018)
Erdkugelgeschichten 02: Der Sonnenuntergang kommt später als man denkt (erscheint am 10.07.2018)
Erdkugelgeschichten 03: Zu groß um flach zu sein: Der Future Circular Collider und die Zukunft der Teilchenphysik (erscheint am 11.07.2018)
Erdkugelgeschichten 04: Perseiden, Sternschnuppen und Plädoyer für das frühe Aufstehen (erscheint am 12.07.2018)
Sternengeschichten Folge 294: Warum sind Planeten rund? (erscheint am 13.07.2018)
Erdkugelgeschichten 05: Terraforming Mars: Wie kriegt ein Planet ein Magnetfeld? (erscheint am 16.07.2018)
Erdkugelgeschichten 06: Mach es wie die Sonnenuhr: Zeitmessung für alle! (erscheint am 17.07.2018)
Erdkugelgeschichten 07: Der blaue Himmel, die rote Sonne und die runde Erde (erscheint am 18.07.2018)
Erdkugelgeschichten 08: Flache Erde oder Erdkugel – Wer profitiert von der Verschwörung? (erscheint am 19.07.2018)
Sternengeschichten Folge 295: Mondfinsternisse und der “Blutmond” (erscheint am 20.07.2018)
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