In der letzten Folge habe ich beschrieben, wie eine Krebszelle zur unbegrenzten Teilungsfähigkeit gelangen kann. Diese Eigenschaft kann sie sehr häufig auch an ihre Tochterzellen weitergeben, so daß rasch ein Klumpen, also ein Tumor von sich rasch teilenden und wiederum sich rasch teilende Zellen hervorbringenden Zellen entsteht. Die Zellteilung ist jedoch ein aufwendiger und sehr energiebedürftiger Prozess und für die Entstehung und das Überleben neuer Zellen bedarf es eines stetigen Nachschubs an Sauerstoff und “Baumaterial”, also den Grundbausteinen für alle Zellen, sowie einer ebenso stetigen Abfuhr von Stoffwechselabfällen und Kohlenstoffdioxid. Dieser An- und Abtransport vollzieht sich über das Blut und durch Blutgefäße, die die Gewebe durchziehen.

Normalerweise findet im ausgewachsenen Menschen keine Neubildung von Blutgefäßen, die sogenannte Angiogenese, mehr statt. Ausnahmen hiervon bilden z.B. Wundheilungsprozesse und Prozesse während des weiblichen Zyklus’. In solchen Fällen wird die Angiogenese vorübergehend eingeschaltet, um neu gebildetes oder heilendes Gewebe mit Gefäßen zu versorgen. In Tumorgewebe hingegen ist der Angiogenese-Schalter (“angiogenic switch”) sehr häufig dauerhaft aktiviert, wodurch aus dem normalerweise ruhenden Gefäßsystem immer neue Abzweige und neue Gefäßarme sprießen, um das stetig wachsende Tumorgewebe zu versorgen. Weil die Feinabstimmung der Steuerung für normale Gefäßneubildung in den Tumoren verloren gegangen ist, sehen in Tumorgewebe gebildete auch ganz anders aus als normale Gefäße: so beobachtet man dort fehlplatziertes Aussprießen von Kapillaren, exzessive Gefäßverästelungen, erratischen Blutfluss, Kleinsteinblutungen, leckende Gefäße, untypisch angeordnete Perizyten und abnorme Proliferation aber auch Apoptose von Gefäßzellen.

Früher dachte man daher, daß Angiogenese nur in großen und weit fortgeschrittenen Tumoren aufträte. Inzwischen gibt es aber neuere Belege, die zeigen, daß sie bereits früh in den mikroskopisch kleinen Vorstufen bösartiger Tumore (Dysplasien und Neoplasien) auftritt und sie damit als genuines Kennzeichen von Krebs gelten kann. Wenn wir noch einmal die Auto-Analogie aus vorherigen Folgen bemühen wollen, dann entspräche solch eine Selbstversorgung eines Tumors durch Gefäßneubildung am ehesten einem eigenen Tanklaster, der unser außer Kontrolle geratendes Auto begleitet und über einen Tankschlauch während der Fahrt sein überaus „unwirtschaftliches“ Fahrverhalten mit stetiger Kraftstoffzufuhr ermöglicht.

Analog zur Apoptose beruht auch die „Entscheidung“ darüber, ob neue Gefäße gebildet werden sollen oder nicht, im Körper auf einem dynamischen Gleichgewicht entgegengesetzt wirkender also pro- und antiangiogenetischer Einflüsse oder Regulatoren. Einige wichtige angiogenetische Regulatoren sind Signalproteine, die an passende Proteine auf den Zelloberflächen (sog. Rezeptoren) von Gefäßzellen (vaskuläre Endothelzellen) binden und dadurch in den Zellen eine das Gefäßwachstum hemmende oder stimulierende Reaktion erzeugen. Besonders gut beschrieben sind hier die Proteine VEGF-A (stimulierend) und TSP-1 (hemmend).

VEGF-A sorgt für eine Neubildung aber auch den Erhalt von Blutgefäßen und kann dazu an drei verschiedene Rezeptoren (VEGFR-1-3) binden. Die VEGF-A-vermittelete Signalübertragung über diese drei Rezeptoren wird dabei noch auf mehreren Ebenen gesteuert und reguliert, woraus ersichtlich wird, wie komplex die Kontrolle dieses Prozesses wirklich ist. Viele Tumorzellen „lernen“ aber, wie sie das Gen für VEGF-A überexprimieren und somit mehr VEGF-A-Protein herstellen können, als normal wäre.

angiogenese (roche.de)

Ähnliches wurde auch schon für andere proangiogenetische Signalmoleküle wie z.B. Mitglieder der FGF-Familie beobachtet. Insgesamt führt die übermäßige Herstellung solcher Signalmoleküle dann zu einer erhöhten und abnormen Gefäßneubildung. Diese Versorgung mit neuen Blutgefäßen ist für viele Tumoren so wichtig, daß ein aktueller Therapieansatz darin besteht, proangiogenetische Faktoren wie VEGF-A mittels Antikörpern abzufangen.

angiogenese2 (krebsgesellschaft.de)

Auf der Abbildung sieht man, wie der Wirkstoff Bevacizumab VEGF-A bindet und damit dessen proangiogenetische Funktion neutralisiert. So soll die Entstehung neuer Blutgefäße unterdrückt und der davon abhängige Tumor letztlich „ausgehungert“ werden.

Umgekehrt können Krebszellen aber auch die Expression von antiangiogenetischen Faktoren wie TSP-1, dessen Protein also das Wachstum und die Verzweigung von Gefäßen unterdrückt, vermindern, z.B. mittels des berühmt-berüchtigten Myc-Proteins, und so das oben erwähnte Gleichgewicht noch stärker in Richtung Gefäßneubildung auslenken.

Die Muster, Verteilungen und Ausbreitung der Gefäßneubildung unterscheiden sich bei den verschiedenen Tumorarten. In manchen, wie dem hochaggressiven Karzinom des Pankreasgangs finden sich sogar häufig regelrechte „Wüstengebiete“, die kaum oder überhaupt nicht mit Gefäßen versorgt sind, während andere, wie das Nierenkarzinom, hochgradig angiogen und daher mit Gefäßen dicht durchsetzt sind. Solche Beobachtungen legen nahe, daß nach einem initialen Anschieben der Gefäßneubildung während der Tumorentstehung Perioden mit sehr variabler angiogenetischer Intensität folgen, die wie von einem komplexen und tumorspezifischen „Schieberegler“ gesteuert werden können. Auf diesen können sowohl die Tumorzellen selbst Einfluss nehmen, als auch die Zellen ihrer Umgebung (sog. Mikroumgebung), welche eine bedeutende Rolle bei der Krebsentwicklung spielen.

Seit kurzem erst ist bekannt, daß auch Zellen, die im Knochenmark entspringen eine wichtige Rolle bei der krankhaften Angiogenese spielen. Unter diesen Zellen sind verschiedene Vertreter des angeborenen Immunsystems wie Makrophagen, Neutrophile und Mastzellen, die an der Entstehung von Entzündungen beteiligt sind. Sie infiltrieren Tumoren in frühen aber auch fortgeschrittenen Stadien und versammeln sich im Randbereich derselben. Dort wirken sie auf das den Tumor umgebende Gewebe ein und legen den eigentlich auf „Aus“ stehenden Angiogenese-Schalter um, wodurch der Tumor leichter in das so „vorbereitete“ benachbarte Gewebe vordringen kann. Außerdem gibt es Erkenntnisse, denen zufolge diese Entzündungszellen die neugebildeten Gefäße vor den Auswirkungen von Medikamenten schützen können, die in die angiogenetische Signalübertragung (z.B. durch VEGF-A, s.o.) eingreifen sollen.

Wir können also feststellen, daß die Versorgung mit an- und abtransportierenden Gefäßen sehr wichtig für Entstehung und Wachstum von Tumoren ist und daß Krebszellen, wie gewohnt, verschiedene Tricks beherrschen können, um Kontrollen und Einschränkungen der Gefäßneubildung zu umgehen, um ihre Ernährung bisweilen recht krude zu erzwingen. In der nächsten Folge berichte ich von der gefährlichsten und furchterregenden Eigenschaft vieler Tumoren, für die die Gefäßneubildung übrigens eine wichtige Voraussetzung schafft, nämlich der Fähigkeit, in gesundes Gewebe vorzudringen (Invasion) und durch „Pionierzellen“ auch weit entfernte Gewebe und Organe im ganzen Körper zu besiedeln (Metastasierung).

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Übersicht Krebs-Serie:

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Kommentare (6)

  1. #1 rolak
    09/01/2014

    moin, eine Verständnisfrage: Läßt sich der lokale Zustand ‘verschärfte Gefäßbildung’ duch etwas Einfaches wie zB Blutpröbchen erkennen oder ist der Stand der Dinge ‘verstanden aber nicht testbar’?

  2. #2 Cornelius Courts
    10/01/2014

    @rolak: moin! Was die aktuelle Diagnostik von pathologischer Angiogenese angeht, bin ich, zugegebenermaßen, nicht auf dem Laufenden. Man kann auf jeden Fall aber die Gefäßversorgung manifester Tumoren angiographisch darstellen und daher auch entspr. entartetes Wachstum abbilden.
    Über den diagnostischen Wert von z.B. VEGF-A-Messungen (in z.B. “Blutpröbchen”) wird auch diskutiert, der dürfte aber von Tumor zu Tumor verschieden sein…

  3. #3 rolak
    10/01/2014

    *hand vor den kopf klatsch* (←braucht dringend nen smilie..) Klar doch, Kontrastmittel^^ Da litt mein Denken deutlich an Kontrastarmut – das Zeug geht ja runter bis in die Kapillaren…

    Und dabei war ich vor drei Wochen erst zum Knotentest bei Omobeim Szintigraphen persönlich (Schilddrüse, Murmel, unaufregend, Familienerbstück) und komme trotzdem nur auf direkte Meßmethoden, nichts auf die indirekten – hach nee, peinlich.
    War übrigens durchaus erheiternd, auf die Vorgabe ‘Und jetzt bewegen Sie sich bitte 10 Minuten lang nicht’ dröhnte unter der Kamera hervor “Wollnse mich verscheißern? Ich gedachte eigentlich, weiter zu atmen!’ 😉

  4. #4 Wilhelm Leonhard Schuster
    11/01/2014

    Kontrastmittel:
    Kann man denn dann, Neuerdings, geringstes Krebsgewebe mittels Gerät, vom gesunden Gewebe, innert kurzer Zeit, unterscheiden?(Ich bin völliger Laie).
    Wie ist das bei “Blutkrebs ” ?(Volkstümliche Aussage,
    ich weiß nicht ob es diesen, speziell, überhaupt gibt.)

  5. #5 Cornelius Courts
    13/01/2014

    @rolak: “Knotentest”

    Sehr brav! Und hoffentlich allet jut!

    @WLS: “Kann man denn dann, Neuerdings, geringstes Krebsgewebe mittels Gerät, vom gesunden Gewebe, innert kurzer Zeit, unterscheiden?”

    Da kommt, würde ich sagen, immer auf die Art des Nachweises an. Angiographisch dürften Mikroläsionen nicht wirklich gut darstellbar sein. Wenn man aber eine entsprechende Biopsie auf Verdacht entnimmt und mittels NGS untersucht, könnte man auch sehr früh schon Hinweise auf eine maligne Transformation erhalten.

    ” Wie ist das bei “Blutkrebs ” ?”

    Doch, Blutkrebs gibt es, sogar viele davon. Man spricht hier von Leukämien, von denen es zahlreiche Erscheinungsformen gibt. Davon hängt auch ab, wo man danach suchen könnte. Die meisten haben aber entartete Zellen im Knochenmark.

  6. #6 rolak
    13/01/2014

    Sehr brav!

    Danke Cornelius, bin allerdings auch erblich vorbelastet und das Einjährige im Zustand ‘leichtes Asthma, kaum Besserung zu erkennen’ war ein willkommener Anlaß für eine Diagnostik-Erweiterung – und das Sonar war verdachterregend. Im neuen Paßfoto ist ne 2cmØ-Dunkelzone, da wird wohl demnächst etwas entfernt werden, falls nicht irgendeine andere Idee aufkommt.
    Insgesamt wie schon erwähnt unaufregend, ist ja nicht mehr so wie bei meiner Mutter Mitte der 70er, die nachher aussah, als wäre sie aber so gerade eben einem Halsabschneider entkommen – und urplötzlich ein Faible für klotzige Ketten entwickelte 😉 Heutzutage wird dergleichen ja quasi durch nen Strohhalm rausgeschlürft.