Das heißt, das würde sie, wenn sie nicht schon an der allerersten Hürde davor, so etwas wie Haß empfinden zu können, nämlich zu existieren, gescheitert wäre und sich nicht hinter ihrer einzigen möglichen Entschuldigung, eben dies nicht bewältigt zu haben, verstecken würde.
Manche fragen sich vielleicht, warum ich so lange schon nichts Religionskritisches mehr geschrieben habe, mein letzter Ausfall dieser Art ist immerhin knapp 2 Jahre her und Anlässe gäbe es doch in Hülle und Fülle. Hat sich etwa meine Meinung geändert, konnte mich einer der Tausenden Kommentare zu meinen Texten eines Besseren belehren oder bekehren, hat gar beim „angry young man“ der Sturm-und-Drang-Anfangstage von blooD’N’Acid bereits die Altersmilde eingesetzt? Keineswegs. Meine Widerwille gegen alle Religionen und meine Abscheu gegen alles Fundamentalistische, gegen alle absoluten Wahrheiten, gegen alle Versuche, mir die Freiheit der Gedanken und vom Glauben streitig zu machen, sind ungebrochen und ungemildert, sie sind bloß erkaltet.
Man hat mich kürzlich darauf aufmerksam gemacht, daß sich unlängst viele Leute vermutlich bei irgendeiner Betveranstaltung mit SARS-CoV2 angesteckt haben. Ähnliches passierte auch bei religiös motivierten Zusammentreffen in Göttingen aber auch in Kalifornien und Südkorea und wahrscheinlich überall auf der Welt: es ist den solchermaßen prädisponierten Leuten offenbar wichtiger, sich mit Gleichgesinnten zu treffen und in unmittelbarer Nähe zu selbigen laut und aerosolträchtig irgendeinen ausgedachten Kappes anzurufen und -zusingen, als die eigene und – im Sinne einer epidemiologischen Verantwortung – auch die Gesundheit anderer zu schützen. Überrascht mich das? Selbstverständlich nicht. Religion bringt Leute dazu, die unaussprechlichsten Dinge zu tun, da ist das ja fast schon harmlos [1]. Ist man denn über das Verhalten der Ichneumonidae überrascht? Oder des Skorpions? Kaum. Aber empört es mich wenigstens? Irgendwie selbst das nicht mehr. Ich fürchte, ich habe, was Religion und v.a. ihre fanatischen Anhänger angeht, jegliche Empörungsfähigkeit verloren, mein „Empörungsmuskel“ ist einfach erlahmt. Vielleicht ist das das deutsche Pendant zur „scandal fatigue“ der USA…
Es ist tatsächlich so, daß es inzwischen nichts, wirklich absolut nichts mehr gibt, das ich etwa der katholischen Kirche nicht zutrauen würde. Wenn mir jemand heute erzählte, daß er ein Video davon gesehen habe, wie der Papst persönlich mit Gusto ein frisch für ihn gesottenes Kind ißt, oder daß es unumstößliche Beweise dafür gebe, daß die katholische Kirche an einem pathogenen Virus arbeite, das nur Homosexuelle befällt, ernsthaft, ich hielte solches erst einmal weder für unplausibel noch wesensfremd und durchaus ins Bild passend. Ein bißchen also wie das Poe-Gesetz, das beschreibt, daß man Extremismus-Parodien nicht vom Original unterscheiden kann: nennen wir es die „Courts-Regel“, der zufolge es kein Kriterium gibt, anhand dessen sich ausgedachte von tatsächlich begangenen Verbrechen der katholischen Kirche unterscheiden lassen. Ist das zynisch? Vielleicht. Oder nur bis auf die Knochen desillusioniert. Vielleicht bin ich auch, die Menschheit allgemein betreffend, zum Partialzyniker geworden: Ich erwarte von einem Teil der Menschheit inzwischen ganz gelassen irrationales, asoziales, impulsives, unsolidarisches, selbstsüchtiges, kurzsichtiges, inkonsistentes Verhalten, das geprägt ist von völlig entgrenzter Gier, atemberaubender Selbstgerechtigkeit, Verantwortungsverweigerung und Heuchelei. (Wer zur Verbildlichung einen personifizierten Archetypen braucht, denke hieran). Wenn das Erwartete dann mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks eintritt, nickt man bloß und denkt leidenschaftslos: „Natürlich.“ Und sich das eingestehen zu müssen, ist eigentlich schlimm, wenn man einmal schrieb:
„Es ist mir irgendwann gelungen, mich mit der Menschheit, ja dem Menschsein zu versöhnen und neben all unsern Fehlern, Schwächen und Unzulänglichkeiten das Potential in uns zu sehen und zu bewundern […]“
Ist das hier, 9 Jahre später, jetzt schon die Altersverbitterung? Vielleicht trägt zu meiner Verzagtheit auch mein Beruf bei und der unausgesetzte Blick in den menschlichen Abgrund, den er mir zumutet, ich weiß es nicht…
Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.” – Nietzsche, Aph. 146
Und nur zur Sicherheit: ja, ich habe Pinkers „Better Angels“ und „Enlightenment now“ gelesen und ich glaube auch seinen Analysen, denen zufolge es heute weniger Gewalt und mehr Wohlergehen auf der Welt gebe, als je zuvor und ja, ich bin mir der „Negativitätsverzerrung“ und der unguten Rolle der Medien bei deren Verstärkung durchaus bewußt, außerdem des „Bias Blindspots“ aber eben auch der Tatsache, daß das Wissen um die Existenz und Auswirkung einer kognitiven Verzerrung nicht den Effekt derselben auf einen selbst neutralisiert. Dennoch: Werte und Errungenschaften wie Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt sind keineswegs für alle Zeiten gewonnen, sondern stehen auf dem Spiel und sind immer noch und wieder bedroht, heute wieder mehr als füher™ (als alles angeblich besser war), von religiösem Fundamentalismus, politischer Korrektheit und irgendwelchen postmodernen Phantastereien (irreduzible Heterogenität und radikale Inkommensurabilität am A….!).
Wir leben heute in einer bereits gefährlich überbevölkerten Welt sterbender Demokratien und trotz endloser Skandale noch immer überlebender Religionen, in der neue Seuchen, die die gigantischen sozialen Ungleichheiten noch vertiefen, ihre Sensen schwingen und überall alte Seuchen und Autokraten zurückkehren, in der die Kinder wieder weniger Geld verdienen werden als ihre Eltern, in der es in absehbarer Zeit den ersten Billionär und zugleich eine vermeidbare Klimakatastrophe unvorstellbaren Ausmaßes geben wird. Und all das sehenden Auges und mit Billigung bzw. bei weitgehender Wurschtigkeit der Meisten. Dominium terrae. Check.
Was soll es also bringen, dagegen anzuschreiben? Es ist wohl so, daß ich zusehends weniger davon überzeugt bin, daß man oder besser: ich etwas verändern kann.
Was die Religionen und ihren Teil der Schuld betrifft, haben Dawkins, Harris, Dennett und Hitchens, die vier Reiter des neuen Atheismus, mit ihren „Gründungswerken“ sie aus allen denkbaren Richtungen, naturwissenschaftlich, logisch, historisch, anthropologisch, intellektuell, literarisch, moralisch und kulturell zusammengedroschen und sicher vielen aber doch noch immer zu wenigen Menschen geholfen, sich davon zu befreien. Dennoch türmen die Religionen, allen voran die katholische – aber auch der Islam ist gut im Rennen – noch immer täglich weiter Grausamkeit auf Ungerechtigkeit und beständig weitet sich das Bild des Grauens, indem auch weiterhin regelmäßig Gräueltaten der Vergangenheit aufgedeckt werden. (Und jetzt, da ich inzwischen Spanisch und so auch lateinamerikanische Medienberichte verstehen kann, nehme ich das kaum erträgliche, hierzulande aber nicht so gut bewußte Ausmaß des katholischen Kindesmißbrauchs auch in den lateinamerikanischen Ländern noch viel intensiver wahr.) Und all das ist weithin bekannt. Dennoch sind immer noch Millionen Menschen allein in Deutschland Mitglied dieser Vereine, zahlen ihnen brav weiter Steuern, liefern ihnen ihre Kinder aus und wählen gehorsam immer weiter C-Parteien, zu deren “weiter so”-Ideologie auch gehört, religiöse Sonderrechte zu verteidigen. Ich begreife es nicht, habe mich aber damit abgefunden, es wohl nie begreifen zu können.
Ich habe dazu gesagt, was zu sagen ist, so gut ich es vermochte und meine eigenen Texte existieren ja auch weiterhin und sind für alle Welt zu lesen. Und wenn mir etwas Neues einfällt, seid Ihr hier die Ersten, die es erfahrt ;). Ich will hier aber eben auch keine ewigen Wiederholungen aufführen (obgleich das womöglich zielführend wäre) und schätze, daß die meisten derer, die dieses Blog regelmäßig lesen, ohnehin bereits meiner (oder doch einer sehr ähnlichen) Meinung sind. Die wenigen, die es nicht sind/waren und auch nicht werden woll(t)en, werden aufgehört haben, es oder zumindest seine religionskritischen Artikel zu lesen. Wir leben schließlich in Zeiten von „tl;dr“ und „yolo“.
Tja und diese hielt Leibniz also für die beste aller möglichen Welten. Ich fürchte, daß er recht hatte. Wenn es also einen Gott gibt, die solche Vertreter duldet und das ganze hier geplant und beabsichtigt hat, dann hasst sie uns alle.
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Referenz:
[1] Jackson JC, Gray K. When a good god makes bad people: Testing a theory of religion and immorality. J Pers Soc Psychol. 2019;117(6):1203‐1230. doi:10.1037/pspp0000206
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