Besonders interessant fand ich daher einen Vortrag zum Einsatz von Bayes-Netzwerken (BN) in Fällen, in denen auch die Identifikation von Körperflüssigkeiten (was, wie geneigte Leser wissen, eines meiner eigenen Forschungsinteressen ist) eingesetzt wird. BN werden im Moment häufig genutzt, um alternative Erklärungen zum Zustandekommen von Spurenbildern unter Einbeziehung von möglichen DNA-Transferereignissen darzustellen und mathematisch zu vergleichen. Das Prinzip läßt sich auch auf Aussagen zum Vorhandensein (oder Fehlen) von bestimmten Spurenarten ausweiten. Im Gegensatz zu den bisher üblichen binären Aussagen (z.B.: Sperma-Vortest war positiv, Spur enthält also Sperma) kann der Einsatz von BN nun eine probabilistische Aussage zur Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Ergebniskonstellation (positive Vortests, bestimmte DNA-Menge in Spur etc.) unter Annahme einer bestimmten Hypothese (“Es gibt Sperma in der Spur” vs. “Es gibt eine unbekannte Substanz in der Spur”) ermöglichen [1]. Die Gruppe hat sogar eine App programmiert, mit der man solche Berechnungen durchführen kann. Schaue ich mir auf jeden Fall näher an.

Ein thematischer Schwerpunkt mit fünf Präsentationen, dessen Teil auch Jans Vortrag war, war die forensische Altersschätzung anhand der Analyse von Methylierungsmustern. Hier ging es unter anderem um die Vielfalt der Methoden, ihre Vergleichbarkeit und Einschränkungen und ihre Anwendung auf Material von Leichen und Hautproben. Außerdem wurde eine ziemlich futuristisch anmutende “Micro-Fluidic”-Variante (genannt “µCD”) zur schnelleren und effizienteren Durchführung solcher Untersuchungen vorgestellt. Seid Methylierungsanalyse zur Altersbestimmung auch von meinem eigenen Labor durchgeführt wird (seit ich in Köln bin nämlich), interessiere ich mich natürlich noch mehr dafür und sehe mich auch immer gerne nach möglichen Verbesserungen, Erweiterungen oder anderen Modifikationen um.

Faszinierend fand ich einen Vortrag aus München, der sich mit modernen forens.-genetischen Methoden zur Identifikation von mehr als 1 Mio. gefallener deutscher Soldaten (WWII) befasste, die nicht mehr anhand ihres Militärabzeichens identifiziert werden konnten, das die deutschen Soldaten damals trugen. Zu diesem Zweck wurde sogar eine neue Datenbank, die “German Genetic Database of Fallen Soldiers” gegründet. Anhand forensischer DNA-Phänotypisierung und der Schätzung der biogeographischen Herkunft anhand paternaler und maternaler Marker können heute solche Identifizierungen noch immer gelingen. Bei solchen Untersuchungen kann auch ein Tool helfen, das in einem weiteren Vortrag vorgestellt wurde [2], denn um männliche Abstammungslinien zu rekonstruieren, muß man den nächsten gemeinsamen Vorfahren durch Analyse von Y-chromosomalen STR-Systemen schätzen und mit dem Tool der Gruppe aus Leuven geht das jetzt deutlich besser.

Ein besonderes Schmankerl war natürlich die “Special Session: OJ Simpson Trial Panel”, in der ein paar der originalen Verfahrensbeteiligten, darunter  Rockne Harmon ,der damals Staatsanwalt war und die Sachverständigen Robin Cotton (DNA) und Bruce Weir (Biostatistik) zusammen mit einem ehem. US-Richter (Christopher Plourd) über den Fall diskutierten. Es ist mehr als 25 Jahre her (1995), dass O.J. Simpson vom Mord an seiner Ex-Frau und deren Freund freigesprochen wurde und doch bleibt dieser Fall einer der berüchtigtsten Strafprozesse in der amerikanischen Geschichte (weil alles dafür spricht, daß Simpson den Mord begangen hat und zivilrechtlich ja auch deshalb verurteilt wurde). Dieser “Jahrhundertprozess” hat dazu beigetragen, Kriminologie und forensische Wissenschaft ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, sowie die Art und Weise, wie Geschworene und forensische Experten mit DNA als Beweismittel vor Gericht umgehen, nachhaltig verändert und gleichzeitig die Notwendigkeit verbesserter Maßnahmen für den Umgang mit Beweismitteln am Tatort und im Labor ans Licht gebracht. Bei der Panel-Diskussion kam natürlich nichts Neues heraus, aber es war sehr spannend und interessant, den Fall noch einmal in der Darstellung der Teilnehmer präsentiert zu bekommen.

Einen Vortrag fand ich hingegen nicht nur fehl am Platze sondern regelrecht ärgerlich: “Ethics as Lived Practice: Anticipatory capacity and ethical decision- making in forensic genetics“. Die britische Sprecherin dozierte mit einer Attitüde ziemlich unappetitlicher, woker Selbstgerechtigkeit von oben herab, daß die forensische Genetik ja ganz toll und wichtig sei, ABER häufig von uns nur “dünne Ethik” (= kurzsichtige Fokussierung auf Verfahren und die Betrachtung von Privatheit als einziges ethisches Anliegen und Technologie als bloßes Werkzeug) praktiziert werde und Ethik bei uns nicht oft genug “gelebte Praxis” sei. Belege dafür blieb sie schuldig, wie auch Ideen, wie man ihre persönlichen Vorstellungen einer ausreichend “dicken” (?) Ethik mit unserer sowieso schon viel zu knapp bemessenen Zeit und hohen Arbeitslast vereinbaren soll, die dazu führt, daß nur ein Bruchteil der Kollegen in der forensischen Genetik überhaupt zum Forschen kommt. Super nervige und übergriffige Nummer, fanden auch alle Kollegen, die ich auf den Vortrag ansprach >:-(

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Kommentare (5)

  1. #1 Kollege
    21/09/2022

    Ich war auch da und stimme weitestgehend zu, wobei ich die Ancestry-Sachen sehr spannend fand (auch, wenn das in Deutschland (noch) nicht zulässig ist).
    Und ja, Essen und Kaffe waren wirklich unterirdisch.
    Aber insgesamt hat mir die Tagung doch gut gefallen.

  2. #2 Dr. Webbaer
    21/09/2022

    Hab selbst so zu tun, bin aber auch, genetisch sozusagen halb auch auf alliierter Seite gewesen :

    Faszinierend fand ich einen Vortrag aus München, der sich mit modernen forens.-genetischen Methoden zur Identifikation von mehr als 1 Mio. gefallener deutscher Soldaten (WWII) befasste, die nicht mehr anhand ihres Militärabzeichens identifiziert werden konnten, das die deutschen Soldaten damals trugen. Zu diesem Zweck wurde sogar eine neue Datenbank, die “German Genetic Database of Fallen Soldiers” gegründet.

    Dr. Webbaer war selbst Soldat und mag derartiges Versterben, das Gefallen-Sein meinend, nicht sonderlich.
    Vielen Dank auch für andere Ergänzungen.
    MFG
    WB

  3. #3 RPGNo1
    21/09/2022

    Einen Vortrag fand ich hingegen nicht nur fehl am Platze sondern regelrecht ärgerlich: “Ethics as Lived Practice: Anticipatory capacity and ethical decision- making in forensic genetics“. Die britische Sprecherin dozierte mit einer Attitüde ziemlich unappetitlicher, woker Selbstgerechtigkeit von oben herab, daß die forensische Genetik ja ganz toll und wichtig sei, ABER häufig von uns nur “dünne Ethik” (= kurzsichtige Fokussierung auf Verfahren und die Betrachtung von Privatheit als einziges ethisches Anliegen und Technologie als bloßes Werkzeug) praktiziert werde und Ethik bei uns nicht oft genug “gelebte Praxis” sei.

    Oh, das erinnert mich an die Diskussion zur Schließung der forensischen Genetik der Charité und die Eingaben seitens Frau Lipphardt und Hernn Moreau

  4. #4 Cornelius Courts
    22/09/2022

    @RPGNo1: “Oh, das erinnert mich an die Diskussion”

    Das nenne ich mal einen aufmerksamen Leser! 🙂

    “zur Schließung der forensischen Genetik der Charité und die Eingaben seitens Frau Lipphardt und Hernn Moreau”

    Da bist Du nicht alleine 😉

  5. #5 RPGNo1
    22/09/2022

    @CC

    Das nenne ich mal einen aufmerksamen Leser!

    Berufskrankheit! 🙂

    Was meinst du, wie oft ich in meinem Job eine Frage der folgenden Art erhalte: “Wir haben von Kunde X eine Frage zu ihrem Produkt Y erhalten. RPGNo1, du hast doch einen ähnlichen Fall im Jahr 2011 bearbeitet. Was hast du damals geantwortet?”

    RPGNo1 geht an die Arbeit und durchforstet die alten Ordner und archivierten Emails. 😀