Der United States Supreme Court hat am Mittwoch in seiner ersten Grundsatzentscheidung zum Recht auf Waffenbesitz seit 70 Jahren einen Akt des Gedankenlesens über mehr als 200 Jahre in die Vergangenheit vollbracht und aus den 27 Worten des zweiten Zusatzartikels (Second Amendmend) in der so genannten “Bill of Rights” exakt heraus lesen können, was die Verfasser der Verfassung damals gedacht haben mussten.


Mal ganz ohne Ironie (so gut es halt geht): Mit einer Mehrheit von fünf gegen vier Richterstimmen – dem normalen Abstimmungsverhältnis im derzeitigen Supreme Court, also – hatte das oberste Richtergremium das Verbot auf Waffenbesitz im District of Columbia (der Verwaltungzone der Hauptstadt Washington) kassiert und damit das bisher immer nur implizierte Recht auf unbeschränkten Waffenbesitz zum Verfassungsprinzip erhoben. Zwar verwendet der Wortlaut des Artikels ausdrücklich das Wort “reguliert”: “A well regulated Militia being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms shall not be infringed.” (zu deutsch: Da eine gut organisierte Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf in das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht eingegriffen werden.)

In seiner Mehrheitsbegründung erklärte Richter Antonin Scalia, dass die Gründerväter den Hinweis auf die gut regulierte Miliz gar nicht so gemeint hätten, sondern damit nur die Existenz der Milizen gewährleisten wollte. Im Sinn gehabt hätten sie aber ein absolut unbeschränktes Recht auf Waffenbesitz, nicht nur zur Verteidigung des Staates. Mit anderen Worten: Die erste Hälfte dieses Verfassungs-Zusatzes sei also gar nicht so ernst gemeint gewesen; dass “in das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht eingegriffen werden” darf, sei vielmehr die “operative Klausel”, die “ein vorbestehendes Recht” (Scalia) auf individuellen Waffenbesitz zum privaten Gebrauch “kodifiziere”.

Die Entscheidung an sich fand ich (leider) nicht überraschend, und dass sich Scalia – der offenbar gerne auch mal mit dem Vizepräsidenten Dick “Darth Vader” Cheney auf die Jagd geht, wie man hört – zum Wortführer der Begründung macht, schon gar nicht. Was mich dabei kratzt ist der Umstand, dass die Richtermehrheit damit die vermuteten Intentionen eines mehr als 200 Jahre in der Vergangenheit liegenden Gremiums zum absoluten Standard verklärt – während es gleichzeitig zulässt, dass das viel unmissverständlicher formulierte und hochrangiger angesetzten Verfassungsprinzp der Redefreiheit (First Amendment) sich den Ansichten der “Durchschnittsperson, unter Anwendung zeitgenössischer gesellschaftlicher Standards” (Miller vs. California,Paragraph 2, Absatz 2) unterwerfen muss.

“Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances”, schreibt das First Amendmend fest. Zu deutsch also etwa: “Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Religion vorsieht oder die freie Ausübung derselben verbietet, oder das die Freiheit der Rede oder Presse einschränkt, oder das Recht des Volkes, sich friedlich zu versammeln und die Regierung um Abhilfe bei Missständen zu ersuchen.” Doch genau dies tut das amerikanische Fernmeldegesetz, der Telecommunications Act of 1996, um den es ja auch in Ali Arba’s Blog über “Orgien und Apfelkuchen” geht.

Beim Waffenbesitz ist das Oberste Gericht also prinzipientreuer als bei der Redefreiheit, obwohl dies – wenn wir schon beim rückwirkenden Gedankenlesen sind – gewiss nicht Absicht der Verfassungsväter gewesen sein kann. Sonst hätten sie ja dieses Second Amend nicht an die zweite, sondern gleich an die erste Stelle gerückt. Aber wenn man schon raten will, was am 15. Dezember 1791 bei der Unterzeichnung der US-Verfassung und der Bill of Rights gedacht wurde, wie wäre es dann damit:

Die “Founding Fathers”, wie dieses verfassungsgebende Gremium heute liebevoll genannt wird, wollten damit erst mal sicher gehen, dass ihnen selbst keiner juristisch ans Leder kann. Denn sie hatten gerade erst einen bewaffneten Aufstand gegen das herrschende System – das keineswegs von allen ihrem Mitbürgern abgelehnt wurde, auch wenn die verklärende Historie gerne die damaligen Amerikaner als geschlossene, rechtschaffen empörte Einheit darstellt – geführt, der unvermeidlich gegen das bis dahin geltende Recht verstoßen hatte. Ohne diese Ex-Post-Legitimierung der Bürgerwehren wäre es in dem neu geschaffenen Rechtsstaat sicher auch denkbar gewesen, dass ein durch die Revolution und ihre Folgen geschädigter “Loyalist” (Anhänger der britischen Krone) den jungen Staat exakt wegen dieser Rechtsbrüche verklagt hätte.

Dass das Second Amendmend den Bürgen ausdrücklich nicht nicht das Recht geben wollte, sich nach Belieben zu bewaffnen, um dann vermeintliche Angreifer oder auch unbedarftes Wild abknallen zu können, meint auch der Verfassungsrichter John Paul Stevens in der ablehndenden Minderheitserklärung (Seite 68 ff.). Denn sonst, so argumentiert er, hätten diese privaten Zwecke auch ausdrücklich drin gestanden; das Weglassen sei “besonders auffällig angesichts der Tatsache, dass die ‘Declarations of Rights’ von Pennsylvania und Vermont ausdrücklich solche zivilen Nutzungen in jener Zeit geschützt hatten”.

Aber wer wird sich schon mit solchen rationalen Argumenten auseinander setzen, wenn er doch statt dessen die Gedanken der Verfassungs-Autoren lesen kann …

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