Geht die Welt unter? Geht sie nicht unter? Als New Yorker – immerhin lebe ich inzwischen länger in dieser Stadt als an jedem anderen Ort meines Lebens – geht mir diese Panik-Diskussion um den LHC in diesen Tagen ein wenig mehr auf die Nerven als sonst. Denn der Weltuntergang kommt gewiss nicht dadurch, dass winzigkleine Protonen aufeinander prallen. Dazu bedarf es schon weitaus wahnwitzigerer Akteure, als wir sie in allen Forschungsinstituten der Welt versammelt finden könnten, und vor allem größerer Kollisionen – etwa solcher, die wir am 11. September 2001 in New York erlebten.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich will nicht behaupten, dass an jenem Tag, als zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Center rammten, die Welt unterging – dafür ereignen sich zu viele und in ihren Konsequenzen und Todesopfern weitaus schlimmere Katastrophen alltäglich und alljährlich auf dieser Erde. Aber in jedem Fall ging am 11. September ein gutes Stück meiner persönlichen Welt unter.
Außer einem Freund, der zwei Wochen lang in den qualmenden Trümmern nach Opfern grub, außer meiner Reporterneugier, die mich drei Tage lang durch die verlassenen und verstaubten Straßen Südmanhattans trieb, und außer einigen Bekannten, die eine Zeitlang nicht in ihre Wohnungen zurück kehren durften, kann ich zwar nicht mal im Ansatz eine persönliche Betroffenheit reklamieren. Und doch fand an jenem Abend des 11.9., als ich nach mehr als 14 Stunden wieder durch die Drehtür des Radio-City-Hochhauses auf die seltsam dunkle Avenue of the Americas (es dauerte eine Weile, bis ich begriff: es fehlten die leuchtenden Türme, die sonst immer wie zwei gigantische Laternen den südlichen Fluchtpunkt der Avenue illuminiert hatten) hinaus trat, eine ganz andere Welt vor.
Eine Welt, in der sich selbst New Yorker plötzlich für “Law and Order” begeistern konnten – jene New Yorker, die selbst nach acht Jahren unter Rudy Guliani immer noch bei Rot über die Ampel gingen, die sich von niemandem das Wort verbieten ließen, deren Respekt man nicht einfach einfordern konnte, sondern sich verdienen musste. Eine Welt, in der selbst Althippies und Avantgardekünstler latente Sympatisanten von Bush und Cheney zu werden schienen. Eine Welt, in der mit den Schranken an Eingangstüren scheinbar auch Schranken in Köpfen installiert wurden.
Ich weiß: Meine Larmoyanz könnte den Bürgern von Belfast oder Beirut nur lachhaft erscheinen, und trotz der “Opfer”, die den New Yorkern abgefordert wurden, leben sie in einem für die Menschen in Darfur – für einen großen Teil der Weltbevölkerung, wenn man’s richtig betrachtet – immer noch unvorstell- und unerreichbaren Luxus. Aber die Welt, die für mich unterging, war schließlich keine materielle, sondern eine Welt der Ideen. Die ersetzt wurde durch eine Welt, in der beispielsweise das Paradox, dass man zur Verteidigung seiner persönlichen Freiheiten genau auf diese Freiheiten verzichten müsse, plötzlich beinahe widerspruchslos als normal empfunden wurde.
Vieles davon hat sich in den sieben Jahren seither wieder verbessert. Die New Yorker sind wieder renitenter geworden; Sympathien für George W. Bush sind hier wieder so dünn gesät wie Bäume am Polarkreis. Sicher, einige meiner Freunde und Bekannten haben die Stadt seither verlassen, aber daran sind unbezahlbare Wohnungen vermutlich eher Schuld als die Angst vor neuen Anschlägen. Die natürlich immer wieder aufflammt, wenn plötzlich Hubschrauber niedrig über der Stadt kreisen oder ein lauter Knall die Luft zum Wackeln bringt.
Aber wenn ich heute abend aus dem Büro gehe, werde ich wieder das Loch am Himmel sehen, das der 11. September 2001 in die Skyline meiner Stadt gerissen hat. Ein schwarzes Loch, das wir nicht etwa dem Streben nach Wissen zu verdanken haben, sondern der dumpfen Borniertheit mittelalterlicher Gedankenwelten.
Kommentare (3)