Wahrheit und Korrektheit in der Wissenschafts-Berichterstattung ist eine ernste Sache (und wer’ s nicht glaubt, der kann ja hier und hier und hier mal die Diskussionen verfolgen) – aber manchmal, vor allem aus großer zeitlicher Distanz betrachtet, kann der freizügige Umgang mit derselben auch Stoff für spannende Geschichten liefern. Wie der große Mond-Schwindel, mit dem die damals noch junge New Yorker Tageszeitung “Sun” im Jahr 1835 solche Auflagenrekorde erreichte, dass sie kurzzeitig zur meist gelesenen Zeitung der Welt wurde.
Auf die Geschichte wurde ich selbst erst durch die Rezension des Buches “The Sun And The Moon” aufmerksam, das gerade in den USA erschienen ist. Mal sehen, ob ich die Geschichte in einiger Kürze zusammen fassen kann:
Die “Sun” war 1833 von Benjamin Day im bereits hart umkämpften (was damals wörtlich zu verstehen war – zwischen den Herausgebern konnte es schon mal zu Straßenkämpfen kommen) New Yorker Zeitungsmarkt gegründet worden; die elf Zeitungen verkauften in der etwa eine Viertelmillion Einwohner zählenden Stadt zusammen gerade mal 26.500 Exemplare – diesen Markt wollte Day mit einem Massenblatt aufmischen, das vor allem mit Sensationsberichten über Mord und Totschlag und einem absoluten Billigpreis von einem Penny (fünf Pennys weniger als die Konkurrenz) Auflage machen wollte (Ähnlichkeiten mit heute existierenden Presseerzeugnissen sind sicher nicht zufällig).
Aber der erhoffte Erfolg blieb aus – bis 1835 der Brite Richard Adams Locke als Chefredakteur angeheuert wurde. Der hatte im Edinburgh New Philosophical Journal einen Beitrag über “Den Mond und seine Bewohner” gefunden; einen kurzen, zwar etwas spekulativen Artikel, der aber durchaus im Rahmen dessen blieb, was man damals über den Mond und die übrigen Himmelskörper wissen konnte. Kombiniert mit ein paar faktischen (und ansonsten völlig zusammenhanglosen) Informationen über den britischen Astronomen John Herschel (Sohn des Uranus-Entdeckers und königlich-britischen Hofastronomen William Herschel), der 1834 in Südafrika ein Teleskop zur Katalogisierung des südlichen Sternenhimmels in Betrieb genommen hatte, verfasste Locke (anonym) eine mehrteilige und natürlich frei erfundene Serie über die Mondbewohner, die Herschel dank seines starken Teleskops erspäht haben sollte.
Von weiten Wäldern und Klatschmohnfeldern war darin die Rede, von blaugrauen Einhörnern und geflügelten Wesen, die aufrecht wie Menschen gehen konnten.
Der Erfolg der Serie war sensationell: Den Zeitungsjungen wurden die Blätter förmlich aus den Händen gerissen, und Tausende von New Yorker belagerten, wie Goodman nacherzählt, die “Sun”-Redaktion, um noch ein Exemplar der ausverkauften Ausgaben zu ergattern. Die Lügen-Serie trieb die Auflage der “Sun” auf 19.360 Exemplare hoch – zum Vergleich: Selbst die Londoner “Times” brachte es damals “nur” auf 17.000, und das in einer Eineinhalb-Millionen-Stadt. Sogar an der Yale-University wurde die Serie ernst genommen und jede neue Folge von Studenten und Professoren gleichermaßen mit großer Spannung und Begeisterung erwartet.
Das erschreckende dabei ist, dass es der Zeitung nicht schadete, als der Schwindel aufflog und Locke als der wahrscheinliche Autor der Serie “geoutet” wurde. Es sei doch alles nur Satire gewesen, erklärte Locke, mit der er “meine unabhängige und äußerste Verachtung für die fantasievolle und heuchlerische Schule” – er meinte damit die Astronomie, die er für eine Pseudowissenschaft hielt – “ausdrücken wollte, indem ich versuchte, sie an Fantasie zu überbieten”. Es war übrigens nicht der letzte Wissenschaft-“Coup” des Blattes, das auch der Ursprung der “Mann-beißt-Hund”-Theorie* des Journalismus war: 1844 druckte es eine erfundene, aber als wahr verkaufte Geschichte über einen Mann, der den Atlantik innerhalb von drei Tagen mit einem Heißluft-Ballon überquerte. Autor dieser Story war übrigens niemand anderer als der damals schon als Schriftsteller bekannte, wenn ach noch nicht wirklich erfolgreiche Edgar Allan Poe.
* (“Wenn ein Hund einen Mann beißt, dann ist das keine Nachricht, weil es so oft vorkommt”, soll der Lokalchef John Bogart seinen Leuten erklärt haben. “Aber wenn ein Mann einen Hund beißt, dann ist es eine Nachricht.”)
Bis 1950 überlebte die “Sun”; im Jahr zuvor hatte sie noch für eine Reportage “Crime on the Waterfront” den Pulitzer-Preis gewonnen – der Artikel wurde zur Vorlage für den Marlon-Brando-Film “Die Faust im Nacken” (Originaltitel: “On the Waterfront”). Ein Versuch im Jahr 2002, das Blatt als “New York Sun” wieder zu beleben, hielt zwar gut sechs Jahre durch, doch Ende September dieses Jahres erschien die letzte Ausgabe.
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