Nachdem ich gerade erst den Schön-Skandal wieder aufgewärmt habe, der im Kern auch den Vorwurf von übereifriger Publikationslust an die wissenschaftlichen Fachmagazine enthält, ist es beinahe inkonsequent, wenn ich jetzt einen Fall aufgreife, in dem den Fachmagazinen und dem Peer-Review-Prozess indirekt unterstellt wird, dass er zu langsam ist, um relevant zu sein. Aber ganz so krass dar man das natürlich nicht sehen … Es geht hier um Tabakrauch, Lungenkrebs und eine Gesetzesinitiative (alles nachzulesen hier in der New York Times vom Mittwoch) – und darum, ob ein wissenschaftlicher Beweis auch dann wissenschaftlich gültig ist, wenn der Autor aus poliitischen Gründen der Peer-Review vorgreift.

Die zentrale Figur hier ist Dr. David M. Burns, ein ehemaliger Medizinprofessor der University of California in San Diego und ein Experte für Lungenschäden als Folge des Rauchens. Burns arbeitet, gemeinsam mit der Statistikerin Christine M. Anderson, an einem Paper, das nachweisen soll, wie ein spezielles Trocknungsverfahren, das vor allem amerikanische Tabakbauern für ihre geernteten Blätter anwenden, das Lungenkrebsrisiko auf das Doppelte gesteigert hat – trotz sinkender Teer- und Nikotinanteile im Zigarettentabak (Ursache ist offenbar der Einsatz von Stickstoffdünger und Propangasheizungen, um den Trocknungs- und Reifungsprozess zu beschleunigen – wobei sich im Tabak so genannte Nitrosamine bilden). Das Paper ist noch in Arbeit – aber in diesen Tagen berät der US-Senat über ein neues Tabakgesetz, das der FDA die Befugnis geben soll, Tabak als Droge zu regulieren. Die Tabaklobby versucht, dieses Gesetz (das vom Abgeordnetenhaus bereits beschlossen wurde) zumindest im Senat durch einen so genannten Filibuster zu stoppen.

Begreiflich, dass Burns seine Resultate – oder zumindest sein Argument – mit ins Spiel bringen will. Wenn seine Fakten stimmen (was ich hier nicht bezweifeln will), dann wären sie ein wichtiges Argument, das bei der Entscheidung über so ein Gesetz unbedingt erwogen werden muss. Doch bis zu einer peer-reviewten Veröffentlichung würde es noch Monate dauern. Und darum hat Burns nun einen Abstract dieser Forschung Ende April auf einer Konferenz der Society for Research on Nicotine and Tobacco in Dublin präsentiert (finde ich zwar nirgends auf der Tagungs-Website, aber ich gehe mal davon aus, dass dies im Prinzip trotzdem korrekt ist und ich nur nicht an den richtigen Stellen gesucht habe) – was die New York Times zu der Print-Schlagzeile inspiriert, der Doc habe “die Regeln umgangen, um die Tabak-Abstimmung zu beeinflussen” (“Doctor Skirts Rule to Sway Tobacco Bill”; in der Online-Ausgabe ist die Formulierung milder: “Doctor Sounds Alarm Ahead of Tobacco Vote“).

Ja, und da ist bei mir das Zahnrädchen mal eingerastet: Hat der Wissenschaftler wirklich die Regeln umgangen? Und wenn, ist dieser Regelverstoß nicht verzeihlich, wenn man bedenkt, dass er durch sein Forschungsfeld nicht nur eine wissenschaftliche Verpflichtung hat, sondern auch eine gesundheitspolitische? Und zwar eine, in der durch aktuelle und Entwicklungen plötzlich Eile geboten ist – was sonst im akademischen Betrieb sicher eher die Ausnahme ist? Burns rechnet im Times-Artikel vor, dass heute jährlich 400.000 Amerikaner an den gesundheitlichen Folgen des Rauchen sterben und dass sich diese Zahl durch die Nitrosamin-Effekte seit den 50-er Jahren verdoppelt hat; er schätzt, dass durch die gesetzliche Neuregelung dieses gesteigerte Risiko wieder um die Hälfte verringert werden könnte und damit etwa 100.000 Menschenleben gerettet werden könnten.

Wenn von seinen Forschungsergebnissen also ein Gesetzesbeschluss von solcher Tragweite abhängt – spielt dann der korrekte wissenschaftliche Publikationsprozess noch eine Rolle? Oder ist der Kollateralschaden durch diese Umgehung der Peer-Review letztlich größer, weil dadurch das Rückgrat der wissenschaftlichen Qualitätskontrolle gebrochen (oder ihr zumindest ein schwerer Bandscheibenschaden zugefügt wird)? Würde mich mal interessieren, wie man dies in Deutschland sieht …

flattr this!

Kommentare (3)

  1. #1 Anhaltiner
    7. Mai 2009

    Ich glaube die Frage “wann darf man was veröffentlichen” wurde schon auf ScienceBlogs diskutiert. Ob nun ein politischer Hintergedanke da ist, oder nicht, ist m.M. nicht entscheidend. Ich denke lieber etwas zu früh veröffentlichen und riskieren das das Kartenhaus (teilweise) zusammenfällt, als solange zuwarten bis jeder Zweifel ausgeräumt ist (wenn das in der Wissenschaft überhaupt möglich ist) und hinterher erklären müssen wie man die Erkenntnisse so lange geheim halten konnte.
    (Diese Disskusion findet man auch in der deutschen Politik, die Einen prüfen das Gutachten noch und die Anderen klagen die Geheimhaltung an.)

    Ich kann mich noch gut an Anfang Februar erinnern als die Sperrfrist für Corot-Exo-7b elendig lang wurde und die Ersten anfingen zu spekulieren und die Anderen sagten “Klasse Sache – aber keine Angst ich verrat nichts” und da ging es um Stunden und nicht um Monate.

    Und wenn es diese Regeln der Veröffentlichungen in so strikter Weise gibt was bitte macht dann arXiv? (gleich verbieten oder erst später?) 😉

  2. #2 Ludmila Carone
    7. Mai 2009

    Und darum hat Burns nun einen Abstract dieser Forschung Ende April auf einer Konferenz der Society for Research on Nicotine and Tobacco in Dublin präsentiert

    Ich versteh die Aufregung nicht. Das was Burns getan hat, tun wir Naturwissenschaftler doch ständig. Dafür sind Konferenzen da! Um die neusten Ergebnisse zu präsentieren. Ob bei dem Paper dazu die Peer Review nicht abgeschlossen wurde oder das Paper erst gar nicht eingereicht wurde, interessiert erst mal nicht. Weil Konferenzen nämlich auch eine Form der Peer Review sind und oft sogar eine bessere als die in den Paper. Weil da nicht ein, zwei ausgewählte, sondern ein paar Dutzend Fachleute auf dem Gebiet stehen und mit Dir die Ergebnisse diskutieren, Fragen stellen, Anregungen geben usw. usf. Meist in den Kaffeepausen und beim Abendessen.

    Und das weiß auch jeder Anwesende, dass die Ergebnisse oft recht frisch und vielleicht sogar kontrovers sind. Das ist doch das Spannende daran. Wenn wir immer nur druckreife Erzeugnisse auf Konferenzen abliefern würden, dann würde einen der Hauptanreize solcher Konferenzen verlieren.

  3. #3 Christian W
    7. Mai 2009

    @Ludmila Carone
    …und dadurch sicher noch anstrengender – weil langweiliger – sein als Sie in Ihrem Blog bereits geschildert haben. Ist doch klar, wenn ich schon auf einer Konferenz bin (ich war noch nie und werde wohl auch nie auf eine gehen/eingeladen sein 😉 ), möchte ich auch nicht schon längst begutachtete, reviewte und etablierte Arbeiten präsentiert bekommen, sondern nach Möglichkeit interessante, neue. Das ist doch in jedem Bereich des Lebens genauso.

    Grüße
    Christian W