Spontan hätte ich die flip-floppende Titelseite der aktuellen Newsweek-Ausgabe an den US-Kiosken (siehe Abbildung) erst mal als Gimmick-Cover abgetan, das zudem noch einen Schuss Feigheit offenbart: Der Leser kann sich aussuchen, ob Antidepressiva nun wirken oder nicht – je nachdem, wie herum er das Heft anschaut. Doch dann habe ich die Story gelesen, und die enthält einen ganz spannenden Punkt (der dann auch das ambivalente Titelbild erklärt).
Es ist ein Punkt, über den auch hier in den Scienceblogs immer wieder mal diskutiert wird: Verstoßen Placebos eigentlich gegen die Informations- und Aufklärungspflicht des Arztes? (Achtung Mediziner: Gibt es diese Pflicht, abgesehen von der generellen Maxime der zwischenmenschlichen Ehrlichkeit überhaupt, gewissermaßen als Teil des “hippokratischen Eides”?) Denn dass die gängigen Antidepressiva für die Mehrzahl der Patienten nichts anderes sind als teure Placebos, ist praktisch der Ausgangs- und Angelpunkt der Newsweek-Story. Die Autorin Sharon Begley kann sich dabei auf eine Reihe von Studien stützen, die bereits 1998 begonnen haben: die letzte erschien am 6. Januar im Journal of the American Medical Association. Zudem erschien das Buch “The Emperor’s New Drugs: Exploding the Antidepressant Myth”, geschrieben von Irving Kirsch, gerade im amerikanischen Buchhandel. Darin beschreibt Kirsch (der die ersten kritischen Studien 1998 begonnen hatte), dass sich in einer Meta-Analyse aller 47 verfügbaren Pharmastudien – also nicht nur derer, die letztlich auch veröffentlicht wurden, sondern auch jener, die in der Schublade blieben (und die er sich auf der Basis des Freedom of Information Act von der US-Drogenaufsichtsbehörde FDA besorgt hatte) – rund 82 Prozent der Wirkungen von Prozac, Paxil, Zoloft etc. auch mit Placebos erzielen ließen. Und die verbliebenen 18 Prozent “Vorsprung” der Medikamente entsprachen – hier zitiere ich Newsweek – “1,8 Punkten auf der 54-Punkte-Skala, mit der Ärzte die Schwere von Depressionen messen”. Verbesserter Schlaf, beispielsweise, sei allein schon sechs Punkte wert … Mit anderen Worten:
“As more and more scientists who study depression and the drugs that treat it are concluding … antidepressants are basically expensive Tic-Tacs.” Newsweek, 8.2.2010
Bestimmt wird es Studien geben, die den Psychopharmaka eine Wirkung bescheinigen; diese Diskussion wird am besten unter Pharmazeuten und Medizinern geführt. Aber für den Punkt, auf den ich hier rauswill, ist es erst mal egal. Denn es ist nun Mal eine Tatsache, dass
• Tic-Tacs beim normalen Konsum keine psychopharmakologische Wirkung zeigen, obwohl sie vermutlich Milliardenfach jährlich geschluckt werden;
• Ärzte oft noch nicht mal Placebos verschreiben könnten, selbst wenn sie wollten – weil es kaum oder gar keine geeigneten Präparate gibt (in den USA gibt es offenbar nur ein “verschreibungsfähiges” Placebo, das unter dem wenig originellen Namen Obecalp angeboten wird. da merkt der Patient sehr schnell, was ihm untergejubelt wird …
Wenn wir “Wirkung” – dies ist der Konsensus hier in den Scienceblogs – nur als das Differential zwischen dem Placeboeffekt und dem nachgewiesenen pharmakologischen Effekt bezeichnen, dann wären diese Antidepressiva demnach praktisch wirkungslos, beziehungsweise dank ihrer Nebenwirkungen sogar schädlicher als Placebos. Wenn man dies aber auf breiter Basis publiziert, dann verlieren zwangsläfig sowohl Placebo als auch Pille (die ja offenbar nichts anderes ist als ein Placebo im Ärztekittel) ihre Wirksamkeit, und was bleibt ist – nichts. Statt den Patienten zu helfen, würde Aufklärung dann nur schaden.
Kommentare (24)