Nö, damit will ich nicht für die hanseatische oder gar skandinavische Küche werben, obwohl ich beide, wider eigenes Erwarten, durchaus schätze – wenn auch längst nicht so wie die italienischen oder asiatischen Kochkünste. Sondern ich habe nur versucht, die Idee, die hinter der Arbeit des Ökologen Chuan-Kai Ho (damals noch Doktorand an der University of Houston) steckt, in einem knappen Überschriftssatz auszudrücken. Und wenn’s nicht erstens eine Idee wäre, die an einem seit mehr als 160 Jahren akzeptierten Sachverhalt der Biologie rüttelt, und zweitens in dem US-Fachmagazin American Naturalist auch einen Abdruck gefunden hätte, würde ich wahrscheinlich gar nicht viel Zeit und Mühe darauf verwenden. Die Idee ist, um es mal stark zu vereinfachen, dass es nicht nur an dem als Bergmannsche Regel bekannt gewordenen Zusammenhang zwischen Körpervolumen und -Oberfläche liegt, dass Tiere in höheren (und folglich auch kälteren) Breiten größer werden als in den warmen Zonen, sondern dass es auch daran liegt, was sie dort essen.
Die Pressemitteilung der Uni ist, wie eine schnelle Google-Suche zeigt, gut gelaufen – zumeist wird sie mehr oder weniger wörtlich übernommen. (Einen Beitrag auf Deutsch, der sich allerdings direkt auf den “American Naturalist”-Artikel bezieht, gibt es hier.) Und natürlich bin ich auch selbst erst mal darauf angesprungen wie ein Bayer auf Freibier, denn schließlich sind ja die wichtigsten Elemente eines “Coup” gegeben: Eine mehr als 160 Jahre alte These, die zudem so einfach und plausibel ist, dass man sich gar nicht vorstellen kann, warum sie nicht stimmen sollte; ein junger, vermutlich ehrgeiziger Forscher, der diese Tradition hinterfragt – und natürlich dann ein überraschendes Ergebnis findet: Nicht die Kälte ist’s, sondern das nahrhaftere Futter. Doch irgendwie nagt’s zweifelnd an mir, ob meine Begeisterung (die inzwischen verpufft ist) wirklich berechtigt war.
Vielleicht ist es ja in der wissenschaftlichen Publikation nichts Ungewöhnliches, aber wenn eine Uni, an der der betreffende Doktorand heute gar nicht mehr tätig ist, sondern wo er im Jahr 2008 promovierte (er ist inzwischen an der Texas A&M University in Galveston), auf einen Artikel verweist, der nicht in der aktuellen Ausgabe eines Fachmagazins erschien, sondern in der Ausgabe zuvor – ich würde, im normalen journalistischen Alltag, bei so etwas erst mal skeptisch, ob mir da nicht saure Gurken verkauft werden sollen.
Sicher, Chuan-Kai Hos Co-Autor und Doktorvater, Steven Penning, gehört ja noch zur Fakultät, und eigentlich sollte die Pressemitteilung vor allem dazu dienen, die Qualität der Doktorandenausbildung der University of Houston anzupreisen (die so gut sei, dass selbst ein Kandidat einen oder mehrere Beiträge in angesehen Fachmagazinen veröffentlichen kann). Aber letztlich wird die Story über ihren “Plot” verkauft – und der ist “Student widerlegt alte wissenschaftliche Erkenntnis”.
Und auch wenn ich kein Biologe bin, will ich mir doch mal anmaßen, da ein bisschen genauer drauf zu schauen. Fangen wir mal mit der Bergmannschen Regel selbst an: Sie beschreibt, simpel ausgedrückt, den Zusammenhang zwischen Lebensraum und Körpermasse, ausgehend von der Beobachtung, dass – zumindest bei Warmblütern – sowohl die Arten innerhalb einer Gattung als auch die Individuen innerhalb einer Art typischer Weise größer sind, je höher die Breite (sowohl nördlich als auch südlich) ihres Lebensraumes ist. Von Walen über Robben, Bären, Vögeln, selbst bei Menschen lässt sich das beobachten. Und die Erklärung ist auch ganz einfach und logisch: Da die Körperoberfläche quadratisch zunimmt, das Volumen hingegen kubisch (das muss ich jetzt nicht weiter vorrechnen, oder?), schützt eine größere Körpermasse besser vor Wärmeverlust.
Was Ho und sein Doktorvater, unterstützt von dem Meeresbiologen Thomas Carefoot von der University of British Columbia untersuchten, scheint auf den ersten Blick eine “mögliche neue Lösung” des “Rätsels, warum Tiere in der Kälte größer werden” zu sein (Formulierungen aus der Pressemitteilung). Sie untersuchten, ob es an der Nahrung liegen könnte. Und dazu fütterten sie drei verschiedenen pflanzenfressenden Arten – Laubheuschrecken (Orchelimum), Spitzkopfzikaden (Prokelisia) und Seehasen (Aplysia) – mit Pflanzen, die entweder in gemäßigten oder in höheren Breiten wuchsen. Das Resultat:
“In the laboratory, all three species grew larger or faster on high‐latitude plants. High‐latitude diets increased Prokelisia size and Aplysia growth rates by 8% and 72%, respectively, enough to explain the increase in field body size toward high latitudes.”
Davon abgesehen, dass die Bergmannsche Regel für Warmblüter aufgestellt wurde (und dass die Physiologie von Gliederfüßern sicher sehr große Unterschiede zu Wirbeltieren aufweist), scheint mir der hier vollzogene logische Sprung doch ein paar Stufen auszulassen.
Sicher mag es plausibel sein (dies ist auch die These der Autoren), dass Pflanzen in höheren Breiten auf ihr Volumen bezogen nährstoffreicher sind. Erstens müssen sie sich dort vermutlich gegen weniger Fressfeinde und Konkurrenten durchsetzen als in einer üppig wuchernden tropischen Flora – was bedeuten könnte, dass sie weniger Energie zur “Verteidigung” aufwenden müssen. Und zweitens müssen sie kürzere Wachstumsperioden verkraften können, was die Notwendigkeit zur Nährstoffspeicherung größer macht. (Sorry, ich bin kein Biologe, muss mich daher für mein etwas ungelenkes Vokabular entschuldigen!) Und natürlich ist ein Zusammenhang zwischen besserer Ernährung einerseits und größerem Körperwachstum plausibel und, so weit ich weiß, auch empirisch belegbar.
Aber was ist mit dem Problem, dass diese Pflanzen eben nicht das ganze Jahr über wachsen? Die arktische Tundra, beispielsweise, ist schließlich eher eine Wüste als ein Dschungel. Die Annahme, dass die Ernährungsbasis für Pflanzenfresser dort besser sein könnte als in gemäßigten oder tropischen Breiten, ist nur schwer nachvollziehbar.
Doch das Hauptproblem für mich ist sowieso, dass die Bergmannsche Regel ja gar nichts über den Mechanismus aussagt, der zu dem größeren Körpervolumen führt – sie stellt lediglich einen (geometrischen) Sachverhalt dar. Will heißen, dass die Beschreibung eines solchen Mechanismus – bessere Nahrung erlaubt stärkeres Wachstum – sie weder widerlegt noch erweitert. Ich würde eher vermuten, dass sowohl nährstoffreichere Pflanzen als auch massereichere Tiere gleichermaßen erklärbar sind als das Ergebnis der Notwendigkeit eines an die kühleren und sonnenärmeren Lebenssraum-Bedingungen angepassten Metabolismus. Aber das klingt, zugegeben, nicht mehr nach einem wissenschaftlichen Coup, sondern nach einem alten Hut.
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