Auch wenn ich gerade nicht viel Zeit habe, um hier ausgiebig zu posten, will ich doch den Hinweis auf die aktuelle Kolumne von Olivia Judson – auch bekannt als “Dr. Tatiana” – in der New York Times nicht versäumen. Unter der Headline “Enhancing the Placebo”, plädiert sie dafür, den Placeboeffekt – sofern er steuerbar ist – besser zu nutzen:
It’s time we stopped treating the placebo effect as a nuisance – something that rational humans shouldn’t have. Instead, we must learn to purposefully enhance its power.
Es ist Zeit, damit aufzuhören, den Placeboeffekt als etwas Störendes anzusehen – als etwas, das rationale Menschen nicht haben sollten. Statt dessen müssen wir lernen, seine Kraft nutzbringend zu steigern.
Das ist ein Stich ins Wespennest, wie ich vermute (hab’ ja schließlich hier selbst schon über Placebos geschrieben und kenne die Reaktionen), denn erstens werden Placebos in der medizinischen Wissenschaft nur als Kontrollsubstanzen in Pharmatest akzeptiert, und zweitens haftet ihnen der Beigeschmack des Betrugs, der bewussten Irreführung von Patienten an. Andererseits scheint es bedenklich, wenn man pharmakologische Substanzen nur deswegen verabreicht, weil sie per Definition keine Placebos sein können – obwohl ihre “Wirkung” vielleicht auch eher im Ritual des Behandeltwerdens begründet ist als in den biochemischen Effekten der “Wirksubstanzen”. Will sagen – und ähnlich argumentiert auch Olivia Judson – dass es eigentlich nicht ehrlicher ist, dem Patienten etwas zu geben, das zwar im Arzneibuch eingetragen ist, aber letzlich den gleichen Heilungsmechanismus mobilisiert wie das Placebo.
Gibt es das denn überhaupt, Medikamente die eigentlich nur eine Placebowirkung haben? Nun, die oben bereits verlinkte Placebostudie über Antidepressiva schien dies zu bestätigen. Und auch Olivia Judson kann diese Vermutung belegen, unter anderem mit einer Studie von Daniel E. Moerman über Cultural Variations in the Placebo Effect, die im Jahr 2000 im Medical Anthropology Quarterly erschienen ist. Origineller Weise zeigte diese Studie, die anhand von 117 separaten Studien die regionalen Differenzen im Placeboeffekt hinsichtlich zweier Medikamente gegen Magengeschwüre verglich, dass dabei die Deutschen am empfänglichsten für die Placebos waren, während sie bei den Brasilianern am häufigsten versagten. Was auch immer der Grund dafür sein mag …
Ohne jetzt jeder Quelle und Referenz (die bei Judsons Kolumne nicht verlinkt, sondern nur zitiert sind) nachzugehen, greife ich hier noch eine ihrer Aussagen heraus – weil sie sich, wie ich zugeben muss, mit dem deckt, was ich bisher auch schon vermutet habe:
However, the most reliable source of a strong placebo effect appears to be: the doctor. Placebo treatments are more powerful if your doctor believes in them. They are also more powerful if the doctor tells you so.
Und eine Möglichkeit, wie der Arzt den Placeboeffekt nutzen kann, ohne seine Patienten mehr als nötig anzuschwindeln, liege, so schreibt sie, in einer “gezielten Steigerung des Elements eines formellen Rituals in der Medizin”, denn oft sei auch die “Wirkung” der Alternativmethoden auf diese Ritualisierung zurückzuführen.
Dass Rituale zur Medizin gehören, ist ein alter Hut. Der weiße Kittel, das Stethoskop um den Hals, “Sagen Sie mal Aah …” – das sind nur ein paar schnelle Beispiele für die rituelle Symbolik, die wir als Patienten von unserem Arzt geradezu erwarten. Natürlich muss man abwägen, wie viel man einem mündigen Patienten zumuten will, aber kann es sein, dass durch die Aufgeklärtheit der Patienten einerseits, durch wirtschaftliche Zwänge (kaum noch kostendeckende Vergütung fiele mir hier an erste Stelle ein) das Verhältnis zwischen Arzt und Patienten schon zu stark “entzaubert” wurde?
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