Ich habe mal wieder in der aktuellen Ausgabe von Harper’s geblättert. Die Coverstory erzählt davon, “wie Wall Street Millionen hungern ließ und damit durchkam” (How Wall Street Starved Millions and Got Away with It), geschrieben vom Harper’s-Mitarbeiter Frederick Kaufman (den Link sollte man sich aufheben – ich denke, dass der Artikel, der eigentlich nur Abonnenten oder Zahlungswilligen online verfügbar gemacht wird, früher oder später auf Kaufmans Seite auftauchen wird). Und es geht um so etwas scheinbar schlichtes wie harten Weizen, der als eines der Grundnahrungsmittel der Welt anzusehen ist und dessen Weltmarktpreis letzlich an der Minneapolis Grain Exchange, der Getreide-Warenterminbörse von Minneapolis, bestimmt wird. Im Jahr 2008 explodierten die Getreidepreise, trotz einer Rekordernte, und mehr als 250 Millionen Menschen weltweit (darunter übrigens auch fast 50 Millionen Amerikaner) mussten plötzlich in diesem Jahr unerwartet erleben, was Hunger ist – so viele wie nie zuvor in der Geschichteund das erste Mal seit Generationen, dass die Zahl der Hungernden weltweit nicht sank, sondern anstieg – auf mehr als eine Milliarde ingesamt.
Ob man am Ende des Artikels wirklich genau verstehen kann, wie diese Situation durch Spekulanten geschaffen wurde, ist schwer zu sagen. Dass der Investment-Jargon der Wall Street, mit seinen Optionen, seinen Long- und Short-Positionen selbst vermeintlichen Insidern oft nicht verständlich ist, hat ja die Finanzkrise von 2008 bereits dokumentiert.
Ich will versuchen, in wenigen Worten nachzuzeichnen, was Kaufman als die Ursache der Hungersnot ausgemacht hat:
Im Jahr 1991 kam die Investmentbank Goldman Sachs auf die Idee, einen Rohstoff-Indexfonds aufzulegen, in dem die Anleger auf die Presientwicklung so alltäglicher Güter wie Rind- oder Schweinefleisch, Weizen und Mais, Kaffee oder auch Kakao spekulieren konnten. Der Fonds lief gut genug, um andere Banken zu Nachahmungen zu inspirieren. Doch die Folge für die Rohstoffbörsen war nachhaltig: Bis dahin waren selbst Spekulanten, die mit Getreide-Futures handelten, darauf angewiesen, dass dieses Getreide, auf das sie lange vor der Ernte eine Option erworben hatten, auch tatsächlich in die Scheuer gefahren und an Mühlen oder auch auf dem Weltmarkt – die USA seien das “Saudiarabien des Getreides”, schreibt Kaufman, da knapp die Hälfte der Produktion exportiert wird – abgesetzt wird. Der dann zu zahlende Spot-Preis (d.h. der “reale” Preis) lag meist über dem der Optionen, was dem Spekulanten einen Profit bescherte, aber andererseits konnte er sich auch nicht zu weit von dem Spekulationspreis entfernen, da die Ware ja letzlich an den Mann gebracht werden musste (und nicht unbegrenzt gehortet werden konnte).
Doch die erwähnten Index-Fonds handelten nicht mit der Ware selbst – sie investierten zwar auch in die entsprechenden Warentermin-Optionen, aber meist nur etwa fünf Prozent der Kundeneinlagen (fünf Prozent Anzahlung genügen, um sich beispielsweise eine Weizenoption zu sichern). Sollte der Weizen-Spotpreis dann fallen, war das Risiko wenigstens durch den Zinsertrag der inzwischen anderweitig angelegten 95 Prozent zumindest teilweise gedeckt. Ohne die Feinheiten dieser Deals (die ich sowieso nicht durchschaue) weiter zu vertiefen, lässt sich jedenfalls sagen, dass diese Lebensmittel-Indexfonds bestens liefen und vor allem nach dem Crash von 2008 eine explosive Nachfrage erfuhren. Warum? Ganz einfach: Essen muss jeder. 2003 waren gerade mal 13 Milliarden Dollar in solche Fonds investiert, doch bis 2008 stieg die Summe auf 317 Milliarden. Zu viele wollten an dem Geschäft teilhaben.
Und so entstand eine groteske Situation, in der die Nachfrage nach den Weizen-Zertifikaten höher war als nach dem Weizen selbst. Contango nennen die Fachleute eine solche Situation, in der die traditionellen Warentermin-Regeln auf den Kopf gestellt werden. Die Folge davon ist aber unausweichlich auch letztlich ein Anstieg der Cash-Warenpreise (dieser Zusammenhang ist auch für Nicht-Ökonomen plausibel). Angetrieben wurde die Spirale erst mal von der Warenterminbörse in Chicago, der Chicago Mercantile Echange, wo die Preise für Winter-Weichweizen von 2006 auf 2008 um 367 Prozent (wenn ich richtig gerechnet habe, von etwa 95 Dollar pro Tonne auf 347 Dollar) explodierten. Dies verlagerte die Nachfrage auf den eigentlich teureren, weil proteinhaltigeren, Frühjahrs-Hartweizen (Hard red spring wheat), der ausschließlich in Minneapolis gehandelt wird. Und das trieb den Hartweizen-Weltmarkpreis, und durch dessen grundlegende Bedeutung auch die Lebensmittelpreise an sich, in die Höhe. Um 80 Prozent stiegen die weltweiten Ernährungskosten zwischen 2005 und 2008.
Die Blase platzte, weil sich – nach anfänglichen Missernten in Australien und Europa, bedingt durch schlechtes Wetter (Dürre “down under”, Hochwasser in Mitteleuropa) – die Ernte des Jahres 2008 insgesamt dann als die ertragreichste Weizenernte aller Zeiten entpuppte. Die Preise purzelten, allerdings nicht schnell genug für die, die bereits hungerten (allein in Los Angeles wurde die Zahl derer, die sich nicht genug zu essen leisten konnten, auf eine Million beziffert; im krisengeschüttelten Detroit standen angelich bewaffnete Wachposten vor Supermärkten). Letztlich wurden fast ein Viertel des US-Weizenüberschusses an Rinder verfüttert, die verbleibenden rund 20 Millionen Tonnen wurden als Reserve für die nächste Saison eingelagert. Doch die Spekulaten hatte ihre Profite gemacht, und essen muss letztlich jeder.
Wenn er es sich leisten kann: Spekulanten sind von dem, was 2008 passierte, offenbar gar nicht abgeschreckt, im Gegenteil. In einem auch von Hoffman zitierten Anlegerbrief schreibt der Hedgefondsmanager John Hummel von AIS Capital Management:
It is our conclusion that the 2008 through early 2009 correction in commodities, precious metals, and equities related to these areas, was a temporary interruption in a secular bull market for these assets. Furthermore we believe that they are in the process of resuming their bull markets.
Mit anderen Worten: Die nächste Blase – und damit die nächste Krise – kommt bestimt.
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