Ist es das? War nicht erst kürzlich bei Kritisch gedacht, hier in den Scienceblogs, das genaue Gegenteil zu lesen: Wählen gehen ist irrational? Mit dieser Aussage, die sich auf das so genannte Wahlparadox stützt, wurde eine lange Folge z.T. kritischer Kommentare – zuletzt auch einige von mir – ausgelöst, in der scheinbar ohne Erfolg versucht wurde, diese Aussage zu entkräften. Meine eigenen Ausführungen dazu und Ulrich Bergers entsprechende Repliken kann man ab hier nachlesen, die muss ich jetzt nicht wiederholen. Und doch hört man hier die Nachtigall so laut trapsen, dass man kaum noch ein Auge zukriegt (ich schreibe dies in der Tat um etwa drei Uhr morgens). Was tun? Schauen wir erst mal zum Aufwärmen mal auf folgendes Problem:
Es ist eine Aufgabe aus einem Mittelstufen-Geometrietest in den USA. Um die Dreiecksfläche zu berechnen, kann man sich natürlich der Formel “Grundlänge mal halbe Höhe” bedienen und diese Längen anhand des Pythagoras-Satzes ausrechnen. Oder man schaut sich einfach die Flächen an, die nicht zum Dreieck gehören: Die addieren sich ganz leicht auf 5,5 Einheiten, d.h. für das Dreieck bleiben von den neun Einheiten des Quadrats dann noch 3,5. In ebenso umkehrender Logik kann man auch an die Aussage “Wählen ist irrational” heran gehen; wenn dieser Satz richtig ist, dann muss auch der Umkehrschluss richtig sein: “Nicht wählen ist rational.” (Das Wörtchen “immer” kann man gedanklich gerne hinzufügen – das Wahlparadoxon postuliert schließlich eine praktisch universelle Gültigkeit.)
Erst mal zur Auffrischung, wie in Kritisch gedacht die Irrationalität dargelegt wird:
Der zusätzliche Nutzen B, der für mich aus meinem Wahlakt resultiert, tritt nur dann ein, wenn meine Stimme den Wahlausgang umdreht. Die Wahrscheinlichkeit P, dass das der Fall ist, ist selbst in einem kleinen Land wie Österreich so gut wie null, sobald die Wahlbeteiligung 0,1% übersteigt. Dem gegenüber stehen Kosten C, die dadurch entstehen, dass man zum Wahllokal marschieren und eventuell sogar Schlange stehen muss, was wertvolle sonntägliche Freizeit kostet. Selbst wenn diese Kosten sehr niedrig veranschlagt werden, liegen sie bei plausibler Abschätzung immer noch um Größenordnungen über dem erwarteten Zusatznutzen. Kurz gesagt, für meinen Nettonutzen U, wenn ich wählen gehe, gilt
U = P*B – C < 0.
Da dieser Nettonutzen negativ ist, werde ich als rationaler wahlberechtigter Bürger den Gang zur Wahlurne also tunlichst unterlassen.
Wenn P*B – C immer negativ ist, dann muss konsequent C – P*B immer positiv sein. Da im Falle des Nicht-Wählens der Zusatznutzen P*B’ genau den eingesparten Opportunitätskosten C entspricht, umgekehrt die Opportunitätskosten C’ des Nicht-Wählens dem entgangenen Zusatznutzen P*B entsprechen, muss konsequenter Weise auch P*B’ – C’ immer positiv sein.
In anderen Worten: Egal, wie die Wahl ausgeht, kann es dem Nichtwähler nur besser gehen. Oder noch mal anders: Es kann ihm nie schlechter gehen (damit sind natürlich nur die Effekte der Wahl selbst gemeint – ob er sich den Magen verdirbt oder mangels Bewegung, da ihm selbst der Weg zur Wahllokal zu weit war, Kreislaufprobleme erleidet, bleibt hier unberücksichtigt). Jetzt könnte ich nun tief Luft holen und eine ganze Reihe von Beispielen – real und konstruiert – bemühen, die belegen, dass es dem Einzelnen nach der Wahl durchaus schlechter gehen kann: Steuererhöhungen, sinkende Sozialleistungen, Einschränkung oder gar Abschaffung der Bürgerrechte, Berufsverbote – die Liste der Übel, die Wahlsieger durchsetzen können, ist lang. Aber ich glaube, dass die Aussage Dem Nichtwähler geht es nach der Wahl immer besser auch ohne große Beweiskette als absurd erkannt wird.
OK, wenn es dem Nichtwähler aber nicht immer besser geht, dann heißt das doch, dass sein Nettonutzen aus dem Nicht-Wählen-Gehen negativ sein kann. Der wird aber nur negativ, wenn P*B’ – C’ kleiner als Null ist. Was umgekehrt (siehe oben) bedeutet, dass P*B – C auch positiv sein kann. Damit ist also auch die Aussage
U = P*B – C < 0.
widerlegt; es kann auch gelten U = P*B – C > 0.
Q.e.d.
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