Falls sich jemand fragt, warum ich hier das bereits in epischer Breite auf zwei Kanälen debattierte Wahl-Paradoxon hier noch einmal nachkarte, eine ganz persönliche Erklärung vorweg: Ich lebe seit fast eineinhalb Jahrzehnten in dem unbefriedigenden Status, dass ich mangels eines Wohnsitzes in Deutschland nicht mehr wählen kann und mangels Staatsbürgerschaft in den USA nicht wählen darf. Was mir alle Jahre wieder (Wahltag ist in den USA z.B. immer am Tag nach dem ersten Montag im November = nie am 1. November) durchaus rational einen spürbaren Eindruck vermittelt, welchen Wert so ein Wahlrecht hat – vor allem, wenn man es nicht hat. Was mich hier in den USA, mit seiner notorisch niedrigen Wahlbeteiligung, um so empfindlicher trifft – fast so, wie es einen Hungernden quälen muss, wenn er sieht, wie andere ihr Essen achtlos wegwerfen. Wem das zu persönlich oder zu emotional motiviert erscheint, der braucht nicht weiter zu lesen, sondern kann sich hier bequem zur Scienceblog-Startseite zurückklicken.
Über die Frage, ob die Entscheidung zur Teilnahme an einer Wahl rational oder irrational ist, führen Ulrich Berger und ich vor einigen Tagen eine angeregte Diskussion, die – mit zwei konkurrierenden Postings – mehr als 200 Kommentare nach sich gezogen hat. Worum ging es noch mal? Ulrich hatte anhand des so genannten Wahlparadoxons vorgeführt, dass es irrational ist, zur Wahl zu gehen. Genau genommen hat er geschrieben:
Wählen gehen ist irrational.Warum das? Nun, nach seinen Motiven für die Beteiligung an der Wahl befragt, antwortet fast jeder Urnengänger, er würde seinem Kandidaten bzw. seiner Kandidatin zum Sieg verhelfen wollen. Diese Antwort klingt so selbstverständlich und logisch, dass sie so gut wie nie hinterfragt wird. Doch einer kritischen Betrachtung hält sie nicht stand. Denn eine simple Kosten-Nutzen Abwägung ergibt folgendes:
Der zusätzliche Nutzen B, der für mich aus meinem Wahlakt resultiert, tritt nur dann ein, wenn meine Stimme den Wahlausgang umdreht. Die Wahrscheinlichkeit P, dass das der Fall ist, ist selbst in einem kleinen Land wie Österreich so gut wie null, sobald die Wahlbeteiligung 0,1% übersteigt. Dem gegenüber stehen Kosten C, die dadurch entstehen, dass man zum Wahllokal marschieren und eventuell sogar Schlange stehen muss, was wertvolle sonntägliche Freizeit kostet. Selbst wenn diese Kosten sehr niedrig veranschlagt werden, liegen sie bei plausibler Abschätzung immer noch um Größenordnungen über dem erwarteten Zusatznutzen. Kurz gesagt, für meinen Nettonutzen U, wenn ich wählen gehe, gilt
U = P*B – C < 0.
Hat’s jemand bemerkt? Nein? OK, spulen wir den Film noch einmal zurück und schauen’s in Zeitlupe an: Richtig, da ging gar nicht der vermeintliche Wähler, sondern ein Strohmann in die Wahlkabine. Denn der Wähler hatte seine Wahlabsicht noch so ausgedrückt: “Ich will mit meiner Stimme meinem Kandidaten zum Sieg verhelfen.” Sieht man mal davon ab, dass es genau genommen nicht “der” Wähler war, sondern sowieso nur “die meisten der Wähler”, und dass aus dem, was wir über diese Umfrage wissen, nicht präzise deduziert werden kann, ob er nicht auch noch andere Zwecke mit seiner Wahlteilnahme verfolgt (dass es solche anderen Zwecke geben muss, sehen wir ja daran, dass andere Wähler – jener Rest nach Abzug der “meisten” – andere Antworten gegeben haben). Lassen wir all die anderen potenziellen Motive mal hier, nur der Einfachheit halber, außer acht und glauben, dass die meisten Wähler wollen, dass ihr Kandidat gewinnt, und deswegen stimmen sie für ihn. Soweit alles klar?
Der Strohmann, der im Wahlparadoxon dann aber in die Wahlkabine tritt, tut plötzlich etwas ganz anderes: Er will, dass seine Stimme die Wahl entscheidet. Noch mal zur Erinnerung: “Der zusätzliche Nutzen B, der für mich aus meinem Wahlakt resultiert, tritt nur dann ein, wenn meine Stimme den Wahlausgang umdreht.” Also will er nicht nur, dass sein Kandidat gewinnt, sondern dass jener allein durch seine Stimme gewinnt. Dieser Strohmann definiert seinen Nutzen, in anderen Worten, also so: “Wenn meine Stimme nicht die alles entscheidende ist, lohnt es sich für mich nicht zu wählen.” Und das ist in der Tat nur zu erreichen, wenn er als einziger seine Stimme abgeben darf; nur dann ist P = 1 mit Sicherheit gewährleistet. Aber was heißt das? Das heißt, er will gar nicht wählen – er will allein entscheiden. Das hat dann aber nichts mehr mit einer Wahl im vorliegenden Sinn zu tun. Der korrekte Begriff für solch ein System ist, wenn ich’s richtig gegoogelt habe, die Autokratie.
Was heißt denn überhaupt “Wählen”, wie wird dieser Vorgang in einem demokratischen Wahlrecht definiert? Nun, ich nehme mal als nahe liegendes Beispiel das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das in seinem Artikel 38, Absatz 1 (der dem Muster folgt, das in allen westlichen Demokratien verwendet wird erklärt:
„Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.”
In simple Worte übersetzt heißt das, jeder Wahlberechtigte darf an der Wahl teilnehmen, niemand darf im vorschreiben, wen er zu wählen hat, und jede Stimme zählt gleich (im Gegensatz beispielsweise zum Zensuswahlrecht, das im 19. Jahrhundert weit verbreitet und in Preußen noch bis zum Ende des 1. Weltkriegs üblich war). Nicht mehr, nicht weniger, und es ist kaum vorstellbar, dass jemand, der alt und erkenntnisfähig genug ist, einen Stimmzettel zu lesen, das nicht weiß. Denn vom Recht auf ein bestimmtes Wahlergebnis oder auf eine überproportionale Gewichtung der eigenen Stimme steht da nichts. Nochmal: Wer zur Wahl geht, der erwartet, dass er seine Stimme abgeben darf, ohne dass ihm einer vorschreibt, wen und wie er zu wählen hat und ihm dabei über die Schulter schaut – und dass diese Stimme am Ende auch gezählt wird. Und mehr ist auch als “erwarteter Zusatznutzen” nicht drin – wer etwas anderes von seinem Wahlrecht erhofft, hat das demokratische Wahlsystem an sich nicht begriffen.
Diesen Trick, den Betrachter dadurch zu verblüffen, dass man unbemerkt und unerklärt die Zielsetzung der Akteure verändert (man nennt das, wenn ich mich nicht täusche, auch “moving the goalposts”), hatte schon Zenon von Elea bemüht, der in seinem Paradoxon von Achilles und der Schildkröte “beweisen” konnte, dass Bewegung nicht existiert. Zenon basierte seinen Argumentationstrick darauf, dass er seinen Sprinter Achilles nicht auf das Ziel, sondern auf die jeweils letzte Position der Schildkröte losrennen ließ – woraus er dann einen sich stetig verkleinernden, aber unendlich anhaltenden Vorsprung des Panzerreptils konstruierte. Im “Wahlparadoxon” wird durch die ausgetauschte Wahlmotivation eine Zielerreichungswahrscheinlichkeit suggeriert, die gegen Null geht. Vielleicht etwas schwerer zu erkennen, aber trotzdem nur ein Taschenspielertrick. Denn in der Tat ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Stimme als eine Stimme zählt, in einer ordnungsgemäß durchgeführten Wahl exakt 100 Prozent. Denn die “Stimme” ist die Zähleinheit – und die wird nicht dadurch kleiner, dass es eine enorm große Menge davon gibt. Genau so, wie ein Euro nicht plötzlich angenähert Null Euro werden, nur weil davon rund 600 Milliarden im Umlauf sind und dieser eine Euro daher gerade mal in der Größenordnung von 10-13 zu dieser Menge beiträgt – er ist immer noch ein Euro.
Ich könnte jetzt noch mal die ganze Diskussion in den beiden verlinkten Threads nachkarten – aber das ist alles unnötig. Denn erstens hat sich nach dem Strohmann in der Wahlkabine alles Weitere ja schon erübrigt (will heißen: Dass einer der Grundannahmen des vermeintlichen Wahlparadoxons – die über den Nutzen des Wählers – nicht belegbar ist, macht jede weitere Diskussion auf der Basis dieser Grundannahme überflüssig). Und zweitens habe ich aus der Diskussion gelernt, dass es mir nicht gelingen wird, die Anhänger des Paradoxons zu überzeugen. Muss ich ja auch nicht, denn ihrer Ansicht nach entsteht ja dadurch, dass Leute wie sie nicht wählen gehen, kein Schaden, sondern das Gegenteil. Und wenn ich’s genau bedenke, muss ich zugeben: Zumindest damit haben sie wohl recht…
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