Der Fall Hannah Bruesewitz, über den der United States Supreme Court derzeit berät, hat nichts mit den – als unbegründet erwiesenen – Vorwürfen zu tun, dass Masernimpfungen (genauer gesagt, eine Substanz im Impfstoff) die Ursache für Autismus bei Kindern sei. Und doch könnte eine entsprechende Entscheidung der amerikanischen Verfassungsrichter unter Umständen dazu führen, dass die US-Gerichte mit solchen Autismus-Klagen überflutet werden. Ich habe mich zwar in meinem Studium mit Jura befasst – aber nur dem fränkischen und schwäbischen Jura. Wenn es um Rechtsprechung geht, komme ich mit meinem Alltags-Laienwissen schnell an meine Grenzen. Aber wenn ich den Artikel in der New York Times vom Dienstag richtig verstanden habe, dann geht es um Folgendes:
Vor 25 Jahren erließ der US-Kongress ein Gesetz, den National Childhood Vaccine Injury Act of 1986, um die damals (scheinbar?) stetig wachsenden Schadenersatzansprüche an die Hersteller von Impfstoffen zu regeln. Dies geschah übrigens nicht im Interesse der Kläger, sondern zum Schutz der Beklagten: Um solche oft mit massiven Geldforderungen verbundenen Prozesse aus den unberechenbaren Zivilgerichten zu entfernen, wo selbst in Zivilverfahren eine Gruppe Geschworener entscheidet – nicht selten emotional und scheinbar (!) oft zu Gunsten der Geschädigten – wurde ein außergerichtliches Kompensationsverfahren geschaffen. Das Office of Special Masters am U.S. Court of Federal Claims, kurz auch als “Vaccine Court” bezeichnet, ist für solche Fälle zuständig und entscheided, meist ohne lange Anhörung, anhand einer Liste von Kriterien über das Vorliegen von Ansprüchen und die enstprechende finanzielle Kompensation. Finanziert werden die Zahlungen über eine eigens dafür erhobene Steuer auf Impfstoffe (was der Pharmaindustrie die Kosten abnimmt und ihr nicht nur teure, langwierige und potenziell rufschädigende Verfahren erspart, sondern auch ihre Haftpflichtprämien enorm senkt). Es bleibt den Geschädigten zwar unbenommen, diese Kompensation abzulehnen und vor Gericht zu gehen, aber die juristischen Einstiegshürden (eigentlich “Ausstiegshürden”) sind entsprechend hoch.
Bemerkenswert – ob auch juristisch relevant, weiß ich allerdings nicht – ist dabei, dass die abgegoltenen Ansprüche im Jahr 2010 geradezu “explodiert” sind: 154 Kläger erhielten insgesamt 154 Millionen Dollar (also im Schnitt eine Million); das überschreitet das letzte Fünfjahresmittel (68 Millionen Dollar) um gute 125 Prozent. Kompensation für Autismus durch Impfung war von den Schiedsrichtern des Vaccine Court allerdings bisher nicht zu erwarten. Nicht, dass man es nicht versucht hätte: Von den etwa 7900 Fällen, mit denen sich das Office of Special Masters seit Beginn der Dekade befassen musste, waren knapp Dreiviertel (rund 5800) Autismus-Fälle.
Der Fall vor dem Supreme Court hat, wie gesagt, mit dieser zweifelhaften Autismus-“Diagnose” nichts zu tun. Hier geht es darum, dass die heute 18-Jährige seit ihrer Impfung mit einem Kombinationspräparat gegen Diphterie, Tetanus und Keuchhusten an epileptischen Anfällen leidet. Das Präparat, das von der Firma Wyeth (heute Teil des Pfizer-Konzerns) hergestellt wurde, sei – so sagen die Eltern – damals bereits als unsicher bekannt gewesen, weswegen es inzwischen durch ein sichereres Präparat abgelöst wurde. Und wenn die Eltern ihre Ansprüche damals einen Monat früher angemeldet hätten, dann wären sie sogar entschädigt worden, schreibt die “New York Times”; die Symptome, auf die sie ihre Forderungen gründeten, waren erst kurz zuvor aus der Kompensationsliste gestrichen worden. Also zog die Familie Bruesewitz vor ein Zivilgericht – und verlor.
Der Supreme Court soll nun nicht einfach nur entscheiden, ob die Familie Anspruch auf Schadenersatz hat oder nicht; das liegt gar nicht in seiner Kompetenz. Worüber die sechs Richter und zwei Richterinnen (die dritte Verfassungsrichterin, Elena Kagan, hatte sich wegen Befangenheit aus dem Verfahren ausgeklinkt) befinden müssen ist, ob der Kongress mit dem National Childhood Vaccine Injury Act auch die Haftung für alle Herstellungsfehler von Impfstoffen ausgeschlossen hat; offenbar ist dies nicht klar im Gesetz selbst geregelt, sondern eine Auslegungssache.
Falls das Oberste US-Gericht zum Schluss käme, dass genau solche Haftungsfragen auch unter das Impfschadengesetz fallen, dann können die Hersteller erst mal aufatmen. Aber im anderen Fall wäre es ein Startschuss für – siehe oben – Tausende von Klagen von Eltern autistischer Kinder. Und natürlich Rückenwind für alle Impfgegner, die alleine schon aus der formalen Zulässigkeit solcher Klagen folgern würden, “dass da ja nun doch was dran sein muss” (oder so, ich paraphrasier’ das mal einfach). Aber ehe sie sich nun die Familie Bruesewitz zu ihren Helden und Leitfiguren erklären wollen, sollten sie doch eines wissen: Hannahs Eltern sind, nach eigenem Erklären gegenüber der New York Times, keine Gegner von Impfungen. Im Gegenteil:
What we want and are concerned about is to make sure that the safety of vaccines in this country is enhanced
(Was wir wollen und worum wir uns sorgen ist, zu gewährleisten dass die Sicherheit der Impfstoffe in diesem Land verbessert werden)
zitiert die Zeitung den Vater, Russel Bruesewitz. Und zumindest diesen Spruch können sie sich nicht an die Fahnen heften.
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