Ich treibe mich ja neuerdings öfter im Umfeld des Massachusetts Institute of Technology herum (die Gründe dafür hatte ich ja hier schon etwas näher beschrieben), und durch Zufall stieß ich dort auf eine Vortragsankündigung: How Fast is Robust Gossip? Geschwindigkeitsmessung für Klatsch, dazu noch einen, der sich als robust erweist? Das klang schräg genug, um Spaß zu machen, und da ich an diesem Mittwoch mangels größerer Aufträge ein paar freie Stunden hatte (ob daher wohl die Bezeichung “freier Journalist” stammt?), erlaubte ich mir – nein, natürlich holte ich mir beim Veranstalter die Erlaubnis – mal in die Präsentation reinzuhören, die der Doktorand Dan Alisthar von der École Polytechnique Fédérale de Lausanne hier am Computer Science and Artificial Intelligence Laboratory (CSAIL) des MIT gab. Natürlich hatte ich mich vorher schlau gemacht und gelernt, dass es hier nicht um Klatsch und Tratsch beim Frisör geht, sondern dass “Gossip” ein Datenübertragungsprotokoll ist, das auch als “Randomized Information Exchange” bezeichnet wird. Und natürlich hatte ich mich mit dem Thema überhoben – spätestens bei n log n oder O(n log3 n) ließ mich meine Oberstufenmathematik im Stich. Wer mehr über das Thema erfahren will, muss sich also das dem Vortrag zu Grunde liegende – und gewiss grundsolide – Paper hier als pdf anschauen …
Aber der Vortrag inspirierte mich, ein bisschen mehr über den “realen” Klatsch nachzudenken, der im Web 2.0 auf ebenso fruchtbarem wie furchtbarem Boden gedeiht. Was vor Jahren – mehr als zwei Jahrzehnte, würde ich mal ganz locker schätzen – vielleicht noch auf einen vergleichweise kleinen Kreis der Klatschmäuler nebst zugehörigem Satz Ohren begrenzt war, einen Betrieb, vielleicht, eine Nachbarschaft, die Leute, die man im Supermarkt trifft – das wuchs sich “viral” zu einem landesweiten und sogar globalen Phänomen aus. Soziale Netzwerke sind dabei nicht nur die Medien, sondern werden, wie ja auch die traditionellen Klatsch-Netze, durch den Austausch von Banalem, Trivialem und Skandalen gefestigt und gefördert. Klatsch fördert das Zusammengehörigkeitsgefühl, denn nur wer dazu gehört, dem wird auch das vertraulich scheinende “hast du schon gehört …?” zugeflüstert. Und wer dazu gehören will, der muss selbst auch tratschen – Klatsch braucht Reziprozität.
Aber erst das Web 2.0, die Facebooks, Foren, Blogs und Newsgroups (erinnert sich noch jemand?) verlieh dem Klatsch den Rang des Massenmediums. Und hier beobachte ich ein scheinbar paradoxes Phänomen: Gerüchte, via Web 2.0 gestreut, reichen nicht nur weiter und halten sich länger als der alte Dorftratsch: Es scheint, als ob das Online-Ondit eine geradezu irrationale Glaubwürdigkeit genießt, die genau daraus resultiert, dass es ein Gerücht ist. In einfacheren Worten: Es muss wahr sein, denn die traditionellen Medien wie Zeitungen und Fernsehen – alle gekauft, versteht sich, alle Teil einer geheimen Verschwörung – berichten nicht darüber. Da den alten Medien nicht zu trauen ist (ein verbreiteter, und leider auch nicht ganz unverdienter Vorwurf – aber das ist noch mal eine andere Geschichte), muss per se das, was sie nicht berichten, vertrauenswürdig sein.
Wer jetzt denkt, dass ich unter Paranoia leide, der sollte sich mal das Gerücht anschauen, dass Barack Obama eigentlich gar kein US-Staatsbürger von Geburt ist. Dieses völlig unbegründete Gerücht war während Obamas Präsidentschaftswahlkampf aufgetaucht, und obwohl sein Team als Reaktion darauf die Geburtsurkunde(siehe Abbildung) präsentierte und eigens dazu eine Webseite startete hält sich das Gerücht nicht nur – es breitet sich weiter aus, wie ein neues Vogelgrippe-Virus: Inzwischen glaubt jeder vierte Amerikaner, dass Obama nicht in den USA geboren wurde, und darunter sind auch mehrere Kongressabgeordnete, wie es scheint.
Und das “Birther”-Gerücht, als dessen lauteste Tratschtrompete die Zahnärztin Orly Taitz (viel Spaß mit dem Link – ich hab’ hinterher erst mal eine Flasche Hand-Desinfizierer gebraucht) fungiert, ist nicht der einzige Hirnfurz, der sich hartnäckig in der Luft hält; die aktuelle Coverstory der New Yorker Wochenzeitung Village Voice hat noch seitenweise solche Beispiele zu bieten, und liefert, in ihrer Schlagzeile, auch gleich die Erklärung für dieses Phänomen:
Bei aller Ironie scheint das, leider, eine eher nüchtern wirkende Feststellung zu sein: Wer nicht duchgeknallt ist, der gilt in den ultra-konservativen Tea-Party-Kreisen offenbar schon nicht mehr als normal.
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