“Irgendwo muss man ja mal eine Grenze ziehen” – so etwa ließe sich die Aufgabe zusammenfassen, vor der wir als Geographen oft stehen. Zum Beispiel bei der Festlegung von Planungsregionen oder (seltener, weil meist schon historisch gefestigt und nicht mehr leicht modifizierbar) Verwaltungsregionen. Und vor allem zu der Zeit, als ich noch aktiv (= studierend) Wirtschafts- und Sozialgeographie betrieben habe, waren befriedigende Lösungen nicht leicht zu finden. Denn eine gewisse Willkür war solchen Einteilungen – die sich oft auf die Kunden-Herkunft von Einkaufszentren, Pendlerströme oder andere, vergleichsweise leicht erfassbare Verflechtungen stützten – immer anzumerken; zudem waren die Verkehrs- und Einkaufsvernetzungen oft bereits durch planerische Maßnahmen vorgegeben; will heißen: S-Bahnbenutzer können nur auf bestehenden Strecken fahren, und wer einkaufen will, muss halt dahin, wo die Märkte gebaut wurden – ob es ihnen passt oder nicht. Ob dies wirkliche eine optimale Regionaleinteilung reflektiert, darüber kann man streiten (und hat, in der Tat, auch oft und lange gestritten). Darum habe ich mit besonderem Interesse das Paper Redrawing the Map of Great Britain from a Network of Human Interactions in PLoS ONE gelesen, das der italienische Architekt und MIT-Forscher Carlo Ratti et. al. verfasst haben.

Die Methode als “einfach” zu beschreiben, würde der Sache zwar nicht gerecht (wer genauere Details zur Methodik wissen will, kann sich hier zu den entsprechenden Detailseiten des PLoS-Papers durchklicken), aber im Prinzip ist sie auch nicht all zu kompliziert: Die Arbeitsgruppe – an der auch die British Telecom beteiligt war, analysierte Daten von 95 Prozent aller britischen Festnetzanschlüsse eines einzigen Monats – rund zwölf Milliarden Anrufe. Dabei wurden nur Inlandsverbindungen gezählt, und um den Effekt von so genannten “Robocalls” aus Callcentern auszuschließen, wurden nur “reziproke” Verbindungen berücksichtigt – also nur Nummern, die Gespräche machten und empfingen.

Diese Milliarden von Einzeldaten (die aus Datenschutzgründen anonymisiert waren) bildeten in ein Netzwerk von 20,8 Millionen “Knoten” und 85,8 ungerichteten Verbundungen; sie wurden für praktische Zwecke “gerastert”, d.h. in 3042 räumliche Untereinheiten – Pixel im späteren Gesamtbild, wenn man so will – von jeweils 9,5 mal 9,5 Kilometern eingeteilt. Diese Pixel waren dann die kleinsten Einheiten für alle weiteren Schritte – für jedes Pixel wurden die Vernetzung zu jedem anderen Pixel im Raster erfasst. (Wie gesagt, wer die genauen Details zur Methode sowie die gleich zu erwähnenden Algorithmen wissen will, der findet sie hier auf PLoS ONE.)

Alle weiteren Schritte sind dann… naja, nicht unbedingt einfach, aber, sagen wir mal, methodisch. Unter Berücksichtigung der jeweils stärksten Verbindungen – ermittelt auf der Basis der Gesprächsdauer wurden die Pixel “modularisiert”, also aggregiert; die resultierenden Aggregate wiederum aggregiert etc. Wichtig ist dabei, dass bei der Ausgangssituation die räumliche Nähe – die ja eines der elementaren Anforderungen an eine kohärente “Region” darstellt – unberücksichtigt blieb. Trozdem kristallisierten sich schnell einzelne Regionen heraus:

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Schon nach dem zweiten Durchlauf (a) sind London und Schottland, sowie die Stadregionen Liverpool, Manchester, Leeds, Birmingham, Bristol und Newcastle deutlich zu erkennen, in weiteren Schritten (b) kristallisierten sich deutlich abgrenzbare Regionen heraus, die schließlich zum Resultat in Abbildung (c) “bereinigt” wurden.

Womit schon mal die erste Anforderung an die Methode erfüllt wurde – es lassen sich mit ihr tatsächlich klar abgrenzbare Regionen definieren, deren Innenbeziehung (in diesem Fall durch die Interaktion in Telefongesprächen determiniert) stärker ist als die Außenbeziehung – will heißen, es handelt sich tatsächlich um Regionaleinheiten. Aber das bekäme auch jeder Bürokrat mit einer Karte, einem Bleistift und ein bisschen Ortskenntnis hin. Die zweite Anforderung hingegen ist schon schwieriger: Sind diese Regionen wirklich sinnvoll? Genau das ist ja oft das Problem bei der Festlegung von Verwaltungsgrenzen – die Konflikte im postkolonialen Afrika sind zu einem nicht geringen Teil den oft willkürlichen Grenzziehungen zuzuschreiben, die einerseits zusammen gehörende Völker trennten und andererseits unversöhnliche Stämme in einen gemeinsamen Staat zwängten. Nun, in jedem Fall sind es schon mal Regionen, in denen die Bewohner eine vergleichsweise starke innere Bindung zeigen.

Und wenn man Bürokraten mal zugestehen will, dass ihre Entscheidungen wenn auch nicht immer unstrittig, trotzdem aber nicht völlig unbegründet sind, dann könnte die Einteilung Großbritanniens in die EU-Statistikeinheiten NUTS (Nomenclature des unités territoriales statistiques) ja einen gewissen Hinweis geben. Und in der Tat: Wenn man die im PLoS-Paper entwickelte Regionenkarte über die Karte der britischen NUTS-Regionen legt, erzielt man eine erstaunliche Übereinstimmung:

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Aber wenn nur das gleiche Ergebnis heraus käme, wäre die ganze Mühe zwar interessant, aber nicht wirklich lohnend – und vor allem blieben Zweifel bestehen, ob dabei nicht doch all zu sehr die durch frühere Entscheidungen definierten Bedingungen durchscheinen. Denn selbstverständlich ist das Verhalten der Menschen im Raum von Infrastrukturen geprägt, und das muss zwangsläufig auch auf das Kommunikationsverhalten durchschlagen. Mit anderen Worten: Solche Regionen können – ähnlich wie das U- und S-Bahnnetz auch “self-fulfilling prophecies” sein; wenn ich sie erst mal per Verwaltungshandeln definiert habe, bleibt den Subjekten oft wenig Alternative, als sich in ihnen zu bewegen.

Und hier zeigt die PloS-Karte schon ein paar überraschende Abweichungen: Der Norden von Wales (das ja immerhin ein eigener Staat innerhalb des Vereinigten Königreiches ist, zudem einer mit einer ziemlich vertrackten und geradezu isolierenden Sprache ) beispielsweise zeigt starke Vernetzungen mit der britischen Midland-Region, und westlich von London hat sich eine Art “Technologie-Halbmond” herausgebildet, der in bisherigen Verwaltungseinteilungen nicht berücksichtigt ist – aber auf dieser Karte klar heraussticht.

Aber besonders interessant finde ich bei all dem Schottland: Schon in frühen Iterationen der Modularisierung (siehe obige Abildung (a)) war selbst der Grenzverlauf zwischen England und Schottland mit beinahe unwahrscheinlicher Schärfe erkennbar. Und in der Tat sind die Schotten auch beim Telefonieren “Separatisten” – 76,7 Prozent der Telefongespräche wurden innerhalb Schottlands geführt – das heißt, der innere Zusammenhalt (wenn man mal die Kommunikation als einen Maßstab dafür nehmen darf) ist doppelt so groß. Was aber auch bedeutet, dass sich Schottland im Fall der – von Separatisten in der Tat angestrebten – Unabhängigkeit weitaus weniger ins sprichwörtliche eigene Fleisch schneiden würde als das nicht minder separatistische Wales, das in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen viel stärker auf benachbarte englische Zentren ausgerichtet ist.

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Kommentare (1)

  1. #1 KommentarAbo
    10. Dezember 2010