Auf dem Foto muss man vielleicht noch zweimal hinschauen, um zu erkennen, wer nun die echte Heidi Klum und wer ihre wächserne Doppelgängerin ist. Aber im echten Leben, so darf man vermuten, würde kaum jemand die linke Figur für lebendig halten – und nicht nur wegen ihrer wächsernen Starre: Lebendigkeit erschließt sich und vor allem über die Augen, und die Schwelle, ab der wir einem Gesicht diese Lebendigkeit zugestehen, liegt erstaunlich hoch, wie das Paper The Tipping Point of Animacy – How, When, and Where We Perceive Life in a Face beschreibt, das in der aktuellen Ausgabe von Psychological Science erschienen ist und das die Dartmouth-Psychologieprofessorin Thalia Wheatley gemeinsam mit der Doktorandin Christine Looser erarbeitet hat.
Für den Versuch mussten die Testpersonen (60 Studentinnen und Studenten des Dartmouth College) entscheiden, ab wann in einem stufenlos von leblosem Puppengesicht zum Antlitz einer echten, lebenden Person “gemorphten” Kontinuum Belebtheit (Animacy) registriert wird:
Und hier liegt der Knackpunkt, der “Tipping Point”, ziemlich konstant bei 64 Prozent – mit anderen Worten: Um von mehr als der Hälfte der Studienteilnehmer als “definitiv lebendig” eingeschätzt zu werden, musste der menschliche Anteil in diesem gemorphten Gesicht mindestens 64 Prozent erreichen. Aber nicht alle Gesichtsmerkmale – Nase, Mund, Haut, Augen etc. – spielen bei dieser Wahrnehmung die gleiche Rolle: Am meisten wird diese Belebtheit, gemessen an den Korrelationen einzelner Gesichtselemente zur Belebtheit des Gesichts insgesamt, mit den Augen assoziiert:
…the impression of life was gleaned from the eyes more than from other facial features. These results suggest that human beings are highly attuned to specific facial cues, carried largely in the eyes, that gate the categorical perception of life.
Dass wir geradezu reflexhaft Gesichter erkennen, selbst wenn es sich dabei nur um die Abfolge einiger unbelebter Satzzeichen handelt 🙂 ist nicht neu und wird auch von den Autorinnen unter Verweis auf die Arbeiten von Sagiv und Bentin im Journal of Cognitive Neuroscience sowie
erwähnt. Der evolutionäre Sinn dieser schematischen Gesichtererkennung ist ja plausibel: Etwas, das uns anschauen kann, ist potenziell relevant – sei es als Freund oder als Feind. Aber wozu dient dann diese erstaunlich hohe Schwelle der “Belebtheit” – es ist ja nicht anzunehmen, dass unsere menschlichen Ahnen bereits durch Schaufensterpuppen und Wachsfigurenkabinette in die Irre geführt werden konnten. “Wir glauben, dass wir hier eine Effizienz des menschlichen Gehirns anzapfen, das sehr selektiv mit seinen sozial-kognitiven Ressourcen umgeht”, erklärte mir Christine Looser. “Die Vorhersage, was jemand als nächstes tun wird, oder die Eiinschätzung wie sich jemand fühlt und wie man darauf reagieren sollte, ist eine ziemliche geistige Anstrengung. Das wollen wir uns nicht mit jedem Gesicht zumuten, das wir sehen – und schon gar nicht mit Nicht-Gesichtern, etwa dem Antlitz auf verbrannten Toast. Aber auch nicht mit Hunderten von Gesichtern in einer vollen U-Bahn, beispielsweise. Einer Person in die Augen zu schauen kann ein wichtiger Auslöser der Bewusstseinswahrnehmung sein. Und Bewusstseinswahrnehmung kann kognitive Prozesse in Gang setzen, die mit soziialer Interaktion zusammenhängen.”
Demnach ginge es also nicht nur darum, die Belebtheit eines Gesichts an sich festzustellen, sondern zu erkennen, ob sich darin eine Reaktion auf das Ich erkennen ließe? “Wir vermuten, dass schnelle Gesichtserkennung gut für das Überleben ist, aber dass das Fiiltern dieser Gesichter für die Präsenz des Bewusstseins ein Schlüssel für die Begrenzung unserer geistigen Ressourcen auf jene Gesichter ist, die es wert sind. Bei diesem Effekt geht es nicht um das Erkennen von Schaufensterpuppen, sondern um die Entscheidung, mit welchen Gesichtern um uns herum wir und befassen wollen.”
Klingt plausibel – aber nicht ganz befriedigend. Denn “Bewusstsein” wurde bei dem Versuch eigentlich nicht getestet – nur “Belebtheit”. Und die umfasst sicher mehr als nur menschliches Lebendigsein. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr frage ich mich, ob es nicht überhaupt nur die Augen sind, die uns als lebendig interessieren – und zwar jegliche Augen, sowohl von Menschen als auch Tieren. Denn wie ich schon sagte: Was mich anschauen kann – vor allem, wenn es das nach vorne gerichtete Augenpaar eines Prädatoren hat – kann hat mich auch angreifen.
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