512px-Sépulcre_Arc-en-Barrois_111008_12.jpg

Dies ist, was man im Englischen ein “Rant” (wohl am ehesten mit “Tirade” übersetzbar) nennen würde – nicht über die Wissenschaft an sich, sondern – mal wieder über deren Vermittlung. Human Tears Contain a Chemosignal verkündet ein Paper in der aktuellen Ausgabe von Science – und das ist vergleichsweise zurückhaltend formuliert, obwohl der Begriff “Signal” bereits eine Zweckrichtung von Wasauchimmer in menschlichen Tränen impliziert, die vermutlich durch die Versuchsanordnung eben nicht gestützt ist. Diese Vermutung stützt sich, mangels eines “Science”-Abos, allein auf das publizierte Begleitmaterial und das, was ich zum Beispiel hier und vor allem in der Seite-1-Story der New York Times gelesen habe. Die Schlagzeile der Times hingegen – “In Women’s Tears, A Chemical That Says, ‘Not Tonight, Dear'” (zu Deutsch: Frauentränen enthalten Chemikalie die sagt “Nicht heute Nacht, mein Schatz”) – ist meiner Ansicht nach (jawohl, ich drücke hier nur, ich wiederhole: nur meine Ansicht aus) pure Spekulation.

Na gut, in den Medien ist vieles spekulativ und sensationalistisch (hey, ich fahre selbst seit einem Vierteljahrhundert auf desem Karussell mit). Aber da gerade am Tag zuvor die NYTimes mit einer Story über ein umstrittenes ESP-Paper aufgemacht hatte, ist es geradezu ironisch, dass sie daraus selbst nichts gelernt hat und eine Studie prompt überinterpretiert (zugegeben: Die Autorinnen und Autoren des Papers, vom israelischen Weizman Institute, stellen die gleiche Behauptung auf – dass ein Signalstoff in Frauentränen den Männern die Lust auf Sex nimmt – sind aber in der “Verkaufe” ein wenig zurückhaltender).

Ich will mich gar nicht lange mit Details aufhalten (es soll ja eine Tirade sein, keine Dissertation) – gehen wir mal davon aus, dass die Grundaussagen stimmen: dass Frauentränen chemisch verschieden von einer reinen Salzlösung sind, und dass Männern nach dem Schnüffeln solcher frischen Frauentränen eher die Lust vergeht als nach dem Schnüffeln von Salzwasser, das vorher über die gleichen Frauen-Wangen geträufelt wurde. Heißt das also, dass eine Chemikalie – ein Hormon vielleicht – eigens dazu in die Tränen einfließt, um Frauen vor unerwünschten sexuellen Avancen seitens der Männer zu bewahren? So liest sich’s ja …

Und da frage ich mich: Wozu sollte das gut sein? Um den Botenstoff zu erschnüffeln, müsste der Mann den Frauentränen schon auf wenige Zentimeter nahe kommen – was sicher schon zu weit innerhalb der Komfortzone des Objekts der Begierde wäre. Andererseits sind die Tränen doch viel besser zu sehen als zu riechen – und wenn sie eine Sexualabwehr bewirken sollen (als ein Anti-Aphrodisiakum, wenn man so will), dann wären sie doch schon viel wirksamer durch ihre visuelle Wirkung. Es mag ja Männer geben, die sich von emotional nicht verfügbaren Frauen angezogen fühlen. Aber ich würde meinen Fahrradhelm verwetten (hab’ ich, glaube ich, schon mal gemacht – ich brauche dringend eine besser verwettbare Kopfbedeckung), dass die Mehrheit der Männer gelernt hat, dass weinende Frauen selten in der “richtigen” Stimmung sind – und allein schon deswegen durch den Anblick einer weinenden Frau sexuell “abgetörnt” ist.

Mit anderen Worten: Der Mann, der erst eine chemische Keule braucht, damit er begreift, dass weinende Frauen bestimmt anderes im Sinn haben als Sex, hat ein erhebliches Sensibilitätsproblem – und dafür wäre diese chemische Keule dann wohl zu klein; hier wäre ein Knüppel oder ein Baseballschläger das deutlichere und nützlichere Signal.

Aber warum verdirbt dann allein schon der Geruch von Tränen die erotische Männerstimmung? Mein Vorschlag: Weil selbst der unsensibelste Mann den Geruch von Tränen erkennen und von Salzwasser unterscheiden kann. Und warum können Männer das? Weil sie genau wissen, wie Tränen riechen und schmecken – selbst die härtesten Männer heulen nämlich selbst eine ganze Menge solcher Tropfen im Laufe ihres Lebens, und diese fließen ziemlich nah an ihrem olfaktorischen System vorbei.

Natürlich könnte man sagen: Also ist der Geruch von Tränen doch ein erotisch destimulierendes Signal – q.e.d. Wozu also mein Gemecker? Nun, es geht mir darum, dass hier eine chemisch codierte und physiologisch verankerte, quasi automatisch und unterbewusst abaufende Reaktionskette sugeriert wird: Frau hat keine Lust auf Sex -> Frau produziert Abwehrbotenstoff -> Botenstoff wird in Tränenflüssigkeit sekretiert -> Tränen setzten Botenstoff frei -> Männer erschnüffeln Botenstoff -> männliches Gehirn wird chemisch “abgeregt”. Und dafür gibt es auch in dem Science-Paper offenbar keine Beweise – denn der vermeintliche Botenstoff wird hier nicht identifiziert.

Tränen törnen Männer ab (es sei denn, sie sind Sadisten) – das ist nicht überraschend, und ich bin mir sicher, dass dies auch rein visuell, ohne Schnüffeln und chemische Botenstoffe funktionieren würde. Aber eine geheimnisvolle Substanz ist natürlich die aufregendere Story …

Foto: Weinende Maria Magdalena, Saint-Martin d’Arc-en-Barrois; Vassil via Wikimedia Commons

flattr this!

Kommentare (26)

  1. #1 zulu
    7. Januar 2011

    Herr Schoenstein,

    vielen Dank fuer den sehr den informativen blogpost. Lediglich im ersten Absatz: Der Satz ueber 12 Zeilen mit unzaehligen Einschueben und Nebensaetzen gehoert dringend umformuliert; da brauchte ich vier Anlaeufe um zu verstehen was gemeint ist.

  2. #2 S.S.T.
    7. Januar 2011

    Nun, “rant” kann man recht vielfältig übersetzen (s. linguee) Nach meinem Sprachverständnis ehr (Be-)Schimpfen. Kommt aber wohl sehr auf den Zusammenhang an.

  3. #3 Jürgen Schönstein
    7. Januar 2011

    @zulu
    Stimmt! Dieser verschachtelter Bandwurmsatz war eine Schande für jeden Schreiber. Ärger ist einfach keine gute Inspiration … Aber mit ein paar kosmetischen Satzzeichen und Formatbefehlen habe ich nun hoffentlich genug Klarheit in den verbalen Wildwuchs gebracht.

    Und damit der obige Kommentar auch für spätere Leser noch nachvollziehbar ist, habe ich hier das Satzungetüm konserviert:

    Human Tears Contain a Chemosignal verkündet ein Paper in der aktuellen Ausgabe von Science – und das ist vergleichsweise zurückhaltend formuliert, obwohl der Begriff “Signal” bereits eine Zweckrichtung von Wasauchimmer in menschlichen Tränen impliziert, die vermutlich durch die Versuchsanordnung (hier stütze ich mich, mangels eines “Science”-Abos, allein auf das publizierte Begleitmaterial und das, was ich zum Beispiel hier und vor allem in der Seite-1-Story der New York Times gelesen habe) eben nicht gestützt ist.

  4. #4 Hel
    7. Januar 2011

    @Jürgen

    Danke für die passende Würdigung dieser evident bekloppten Überinterpretation. Das geistert ja heute auch auf Google News herum und bewirkte bei mir schon fast schmerzhaftes Kopfschütteln.

  5. #5 Jürgen Schönstein
    7. Januar 2011

    @S.S.T.
    Ja, Rants sind meistens mit Beschimpfungen verbunden – weil sie Ausdruck von etwas sind, das den “Ranter” erregt hat (und da stecken ja oft Personen dahinter). Aber typischer Weise ist jede Art von verbalem Dampfüberdruckablassen gemeint, die sich meistens durch eine gewisse Atem- (in meinem Fall offenbar eher Satzbau-)Losigkeit auszeichnet.

  6. #6 fatmike182
    7. Januar 2011

    Danke für den Blogpost — spricht mir aus der Seele.
    In letzter Zeit schafft es Science immer wieder, durch solche Spekulativa im tageszeitungsformat von sich lesen zu machen.

    Zum Thema selbst:
    so ganz habe ich die Spekulation über evolutiven Zweck nicht, zudem man doch davon ausgehen kann, dass dieser Mechanismus nicht weit vor dem Menschen auftreten (oder irre ich da?).

  7. #7 cydonia
    7. Januar 2011

    Danke! Ich habe mich heute grün und blau über den Artikel in der Süddeutschen geärgert. Dabei würde es reichen, ein wenig genauer darüber nachzudenken…aber nein, wird abgedruckt! Gnadenlos!

  8. #8 beka
    7. Januar 2011

    Beim Weinen enthält die Tränenflüssigkeit u.a. einen deutlich erhöhten Anteil an Prolaktin (ein Schwangerhaftshormon), Adrenocorticotropin (ein Stresshormon) und Enkephalin (ein Opioid). Was Prolaktin bei Mann und Frau macht steht in [1].

    [1] de.wikipedia.org/wiki/Prolaktin

  9. #9 Jürgen Schönstein
    7. Januar 2011

    @beka
    OK, selbst wenn die im weiblichen Körper zirkulierenden Hormone auch in Tränen nachweisbar sind (vermutlich aber in allen Körperflüssigkeiten) – dass sie in so großer Konzentration vorhanden sind, dass sie allein über den Geruchssinn eine bichemische Wirkung beim Mann erzeugen, ist nicht glaubhaft. Der verlinkte Wikipedia-Artikel sagt ausdrücklich:

    Man vermutet beim Mann, dass ein andauernd außergewöhnlich hoher Prolaktinspiegel im Blut für Erektile Dysfunktion (Impotenz) und Libidoverlust verantwortlich ist. (Hervorhebung von mir.)

    Mann müsste schon stundenlang Tränen lecken, um überhaupt eine “Dosis” abzubekommen. Und da der Monatszyklus bei Menschen schon ganz anders abläuft als beispielsweise bei unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, fiele es mir schwer, hier ein evolutionäres Relikt zu sehen – weinen Tiere überhaupt Kummertränen? Ich habe keine Probleme damit, dass Hormone in den Tränen enthalten sind – mich stört die ungestützte und eigentlich sogar absurde Spekulation, warum sie in den Tränen enthalten sind.

  10. #10 beka
    8. Januar 2011

    Bei einem Pollenallergiker reicht eine Polle aus, um eine Allergie auszulösen. Ein Sexualhormon zeichnet sich dadurch aus, dass es in Spuren wirkt. Auch dann, wenn man es bewusst gar nicht wahrnimmt.

    Auch wenn physiologisch einiges im Unklaren bleibt, so halte ich es durchaus für möglich, dass nicht nur der optische Eindruck einer weinenden Frau, sondern auch die hormonelle “Ausdünstungen” dieser mit dazu beitragen, die Hemmschwelle beim Mann anwachsen zu lassen, eine Frau anzufassen.

    Der Geruchssinn ist entwicklungsgeschichtlich wohl der älteste Sinn: selbst Spermien können 3-dimensional “riechen”. Das Warum ist immer von spekulativer Natur. Eine Kommunikation über chemische Substanzen macht aber schon Sinn, da sie bereits auf zellulärer Ebene funktioniert und dazu kein menschliches Großhirn benötigt wird.

    Was man vielleicht fragen könnte ist, warum uns Menschen soviel an Geruchssinn gegenüber Wildtieren verloren gegangen ist, und was noch an Wirkung nachweisbar ist. Jedenfalls habe ich den Artikel so verstanden, dass der Prolaktinanteil mit dazu beiträgt, dass der Mann beim “Schnüffeln” den Eindruck gewinnt, die Frau sei schwanger. Dies würde dann quasi als eine zusätzliche Schutzfunktion wirken.

    [2] de.wikipedia.org/wiki/Weinen

  11. #11 Alexander Stirn
    8. Januar 2011

    Ich finde, der erste Satz im “Science”-Paper fasst die Fragestellung und die Hintergründe ganz treffend zusammen:

    Charles Darwin suggested that expressive behaviors initially
    served emotion-relevant functions, before evolving to serve
    as emotion-signals alone.

    Mäuse zum Beispiel verwenden Tränen offenbar als chemisches, nicht aber als emotionales Signal. Überhaupt finde ich das Paper beim schnellen Lesen ziemlich solide, und auch die Forscher sind sich durchaus bewusst, dass sie mit ihrer Entdeckung viele neue Fragen aufstellen (siehe dazu auch die Weizman-Pressemitteilung).

    Und ich weiß, es ist ein Rant, aber lest doch bitte vorher die Original-Veröffentlichungen. Es ist ja schlimm genug, dass die meisten Journalisten das nicht machen…

  12. #12 Jürgen Schönstein
    8. Januar 2011

    @beka
    Ich will ja nicht bestreiten, was unser olfaktorisches System alles kann. Die Erklärung, die Du bietest, ist allerdings so noch nicht mal von den beteiligten Wissenschaftlern bemüht worden. Ich will’s mal einfacher formulieren: Wenn Frauen per Duftsignal signalisieren sollen, dass sie nicht empfangsbereit sind – warum dann nur in Tränen? Es ist ja nicht so, dass Frauen während ihrer unfruchtbaren Tage pausenlos heulen, nicht wahr? Warum nicht viel effizienter und verlässlicher im Schweiß, oder im Atem (beides olfaktorisch relevante Signalträger)? Und warum soll sich dieses Signalsystem via Augenflüssigkeit erst beim Menschen entwickelt haben (bei Schimpansen etc. funktioniert der Zyklus, wie schon gesagt, ganz anders – und wird durch andere Körpersignale kommuniziert), wo wir doch gleichzeitig über ein viel effektiveres Signalsystem verfügen – die Sprache? Und wenn die Stimmung der Frau schlimm genug ist, dass sie ständig in Tränen auszubrechen droht, dann wird sie das auch sehr deutlich und unmissverständlich verbal (oder meinetwegen nonverbal, durch Gestik und Mimik) zum Ausdruck bringen.

    Schweißfüße riechen ja auch sehr streng, und ich bin mir sicher, dass Forscher, wenn sie Frauen und/oder Männer mit dem Duft von Schweißfüßen konfrontieren würden, eine deutlich verringerte Libido ihrer Testpersonen registrieren würden. Hieße das dann, dass Schweißfüße eine sexuell relevante Signalwirkung haben? Dass unsere Füße stinken, weil wir ungeeignete Sexualpartner sind? Sicher, mangelnde Hygiene könnte auch ein Zeichen für eine Reihe von Persönlichkeitsdefiziten sein – aber diese Informatiol käme garantiert auch schon durch Hinschauen und ohne das käsigen Aroma aus dem Schuhwerk rüber.

  13. #13 Jürgen Schönstein
    8. Januar 2011

    @Alexander Stirn

    lest doch bitte vorher die Original-Veröffentlichungen. Es ist ja schlimm genug, dass die meisten Journalisten das nicht machen…

    Natürlich hast Du recht, das sollte man machen – wenn man den immer Zugang zu allen Journalen hätte. Aber erstens bestreite ich ja nicht, was im Paper gefunden wurde, sondern nur, wie es interpretiert wird. Und zweitens ging es um die Medien-Rezeption des Stoffes, und da wurde schon erkennbar überinterpretiert. Und drittens kann ich aus dem Material, in das ich Einblick habe, schon beurteilen, dass die Arbeit zwar erklären kann, dass Tränen offenbar eine die erotische Stimmung dämpfende Substanz enthalten – aber für die Aussage, dass dies der Zweck der Substanz in den Tränen sei, fehlt die Basis. Ich nenne nur zwei wesentliche Kontrollveruche, die dafür nötig wären: 1. Wie reagieren Männer auf Männertränen? 2. Wie verhält sich der Stimulus aus der Tränen-Substanz zum visuellen Stimulus einer weinenden Frau = welcher Stimulus ist stärker? Letzteres würde erklären, ob der Geruch von Tränen vielleicht nur eine sekundäre (= gelernte) Assoziation mit dem visuellen Stimulus hervor ruft.

  14. #14 Sascha Vongehr
    8. Januar 2011

    “Schweißfüße riechen ja auch sehr streng, und ich bin mir sicher, dass Forscher, wenn sie Frauen und/oder Männer mit dem Duft von Schweißfüßen konfrontieren würden, eine deutlich verringerte Libido ihrer Testpersonen registrieren würden.”

    Sorry Juergen, aber da bist Du nun total falsch. Habe es hier mal beschrieben:
    https://www.science20.com/alpha_meme/sexy_blondes_contra_foot_fetish_spot_pervert

  15. #15 michael
    8. Januar 2011

    Eigentlich wollte ich ja den Link in ‘Forschingsgeschichte als Zeitgeschichte’ loswerden, aber da dort nicht mal die Kommentarvorschau funktioniert:

    Den Brief kann man hier lesen.

    https://libraries.mit.edu/archives/exhibits/wiener-letter/

  16. #16 Sascha Vongehr
    8. Januar 2011

    “Schweißfüße riechen ja auch sehr streng, und ich bin mir sicher, dass Forscher, wenn sie Frauen und/oder Männer mit dem Duft von Schweißfüßen konfrontieren würden, eine deutlich verringerte Libido ihrer Testpersonen registrieren würden.”

    Sorry Juergen, aber da bist Du nun total falsch. Habe es hier mal beschrieben:
    https://www.science20.com/alpha_meme/sexy_blondes_contra_foot_fetish_spot_pervert

  17. #17 S.S.T.
    8. Januar 2011

    Nun, die Welt der Gerüche ist schon sehr viel komplexer, als noch vor einigen Jahren angenommen wurde. Z.B.:
    https://www.dradio.de/dkultur/sendungen/wissenschaft/1344740/ vom 19.12.2010:

    “Ganz wichtig ist, dass diese Riechrezeptoren außerhalb der Nase eine so wesentliche Rolle spielen. Also, inzwischen finden wir sie nahezu in jedem Organ unseres Körpers, in jedem Gewebe finden wir einen kleinen Teil – manchmal zehn, manchmal zwanzig, manchmal dreißig dieser 350 Rezeptoren – in Leberzellen, in Hautzellen, in Magenzellen, in Gehirnzellen! Und wir haben keine Ahnung, was sie dort machen.”

    Bekannt ist auch, dass Angstschweiß als solcher wahrgenommen wird und zu Verhaltensänderungen führt (mit MRT nachgewiesen), selbst wenn die Menge unter der Geruchsschwelle lag. Angstschweiß riecht übrigens anders als ‘normaler’ Schweiß und Sportschweiß; man sollte also auch beim Menschen (kleine) Phermonmengen nicht unterschätzen.

    Auf die individuelle Einstufung, was gut und schlecht riecht, hat ja schon @Sascha Vongehr hingewiesen: Schweißfuß-, Urin- Kot- u.a. ‘Ekel’-Gerüche wirken auf einige Menschen höchst sexy.

  18. #18 Sebastian R.
    8. Januar 2011

    Am Ende des Papers heißt es

    These findings pose many questions: What is the identity
    of the active compound/s in tears? Do chemosignals in
    women’s tears signal anything else but sexual disinterest, and
    is this signaling restricted to emotional tears alone?
    Moreover, could the emotional or hormonal state (menstrual
    phase/oral contraceptives) of the crier/experimenter influence
    the outcome? In turn, what if any are the signals in men’s
    tears (see SOM), in children’s tears, and what are the effects
    of all these within, rather than across gender?

    und ich hätte mir durchaus gewünscht, dass man diese Fragen gleich mit angegangen wäre, dann wäre das Paper nämlich umfangreicher ausgefallen und man müsste nicht kritisieren, dass zu wenig Tränenproben von zu wenigen Frauen für die Versuche bereitgestellt wurden. Wieso hat man außerdem keine Chromatographie oder keine Massenspektrometrie der Tränen gemacht, um die Inhaltsstoffe genau zu definieren. Hätte man nämlich Unterschiede in der Zusammensetzung von Frau zu Frau gefunden, wäre dies ein großer Faktor, den man hätte mit einbeziehen müssen.

    Ansonsten ist es schon ein interessanter Ansatz und da ja bei Mäusen Tränen als Chemosignale dienen, ist es garnicht mal so abwägig, dass es bei uns Menschen evtl. auch so ist. Die Ergenisse der Studie sind mir jedoch mit zu wenig Umfang betrieben worden.

  19. #19 beka
    8. Januar 2011

    Rehkitze verstecken sich normalerweise geduckt irgendwo am Boden, während die Mutter auf Futtersuche ist. Wenn ein Fuchs zu nahe an das Kitz herankommt, sondert das Rehkitz unter diesem Stress über die Tränendrüsen ein bestimmtes Sekret als stillen Alarm ab. Die Mutter kann die paar Moleküle auf einige hundert Meter Entfernung riechen, der Fuchs aber aus irgendeinem Grund nicht. Wenn die Mutter diese Moleküle riecht, stellt sie sich zwischen Fuchs und Kitz und versucht dann den Fuchs vom Kitz wegzulocken.

    Die Rehkitz-Varianten, die laut um Hilfe gerufen haben oder einfach getürmt sind, sind wohl im Laufe der Zeit ausgeschieden. Der stille Alarm über Duftstoffe funktioniert bis heute. Das Rehkitz macht das nicht absichtlich, sondern stellt lediglich eine Variante von vielen möglichen dar, auf extremen Stress zu reagieren. Und solange die Signalkette Sender – Empfänger funktioniert, wird sie auch benutzt.

    Bei uns Menschen entscheidet sich innerhalb von Sekunde, ob man einen anderen “riechen” kann, sprich sympathisch findet. Diese Fähigkeit ist aber bei unterschiedlichen Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt. Und die Kriterien sind teilweise auch unterschiedlich. Variante eben.

  20. #20 Jürgen Schönstein
    8. Januar 2011

    @Sascha Vongehr @beka @S.S.T.
    Klar doch. Natürlich ist unser olfaktorisches System ein Signalsystem, und gewiss gibt es allerlei Vorlieben für allerlei Gerüche. Das steht ja außer Frage. Worum es hier ging, war die schlagzeilenträchtige Überinterpretation eines nicht hinreichend belegten Resultats (lest bitte noch mal meine Kritikpunkte durch). Eine Studie, die selbst so viele Fragen – die sie selbst angesprochen hat – offen lässt, sollte nnicht als “Antwort” verkauft werden> Darum ging’s …

  21. #21 Sebastian R.
    8. Januar 2011

    Eine gute Zusammenfassung der Studie ist hier zu lesen!

  22. #22 S.S.T.
    8. Januar 2011

    @ Jürgen Schönstein

    Richtig, gilt allerdings so ungefähr für jede Studie.

    Ich finde jedoch das Eintauchen in die Welt der Gerüche sehr interessant, wie von @Sascha Vongehr @beka angestoßen. Zum Thema zwar OT. Noch mehr OT, was halten Sie von (entsprechend trainierten) Hunden, die Brustkrebs besser aufspüren können als eine Mammografie?

  23. #23 Jürgen Schönstein
    8. Januar 2011

    @S.S.T.
    Warum ich diese spezielle Studie für so ärgerlich halte, habe ich gerade hier noch einmal ausführlich erklärt. Das hat nichts damit zu tun, dass ich das Vorhandensein olfaktorischer Signale bestreite – im Gegenteil. Leben ist Chemie, und praktisch alle organische Substanzen haben irgend eine olfaktorische Eigenschaft. Dass Hunde Brustkrebs erschnüffeln können, heißt doch nicht, dass Frauen Brustkrebs durch einen Botenstoff signalisieren – sondern nur, dass Hunde eine gute Nase haben. Ich verfolge seit gut zwei Jahrzehnten die Diskussion über menschliche Pheromone – und habe bisher noch keinen einzigen schlüssigen Beweis gefunden, dass sie existieren. Nehmen wir mal diese Stern-Geschichte zum Thema Androstadienon im Männerschweiß: Wenn Frauen diese Substanz im Männerschweiß erschnüffeln, dann sind sie “leicht erregt” (wobei “leicht” im Sinn von “geringfügig” gemeint ist, nicht von “schnell” wie in “leicht reizbar”). Aha. Dass ein schwitzender Männerkörper eine positive sexuelle Konnotation haben kann, muss man nicht lange mit Biochemie erklären: Männer, die lange genug beim Sex durchhalten, kommen eigentlich immer ins Schwitzen. Kann also sein, dass diese Assoziation eine gelernte ist, die in den Frauen die Erinnerung an jene stimulierenden Momente der Leidenschaft erweckt. Und eben nicht die bioechmische Kettenreaktion, die Pheromone bewirken …

  24. #24 Hel
    8. Januar 2011

    @all

    Hieraus werden wirklich besser zwei Threads – einer über die mediale Über- bzw Flachinterpretation dieser Studie und einer über Wirkpotenziale olfaktorischer Prozesse und Einflüsse bei Interaktion. In diesem Sinne sollte Jürgens Nachfolgethread denn auch ersterer Thematik vorbehalten bleiben, finde ich.

    Zu olfaktorischen Prozessen abseits von dieser Studie gabs hier ja interessante Beiträge. Hat eine(r) vllt auch Ahnung, warum manche Katzen bei der Interaktion mit Homo sapiens flehmen, besonders angesichts seiner Füße (auch direkt nach dem Duschen), Schuhe sowie stark getragener, aber auch frischgewaschener Wäsche?

  25. #25 Sebastian R.
    9. Januar 2011

    @alle, die Fragen zum olfaktorischen System gestellt haben, kann ich dieses Paper empfehlen: The cell biology of smell

  26. #26 cydonia
    9. Januar 2011

    @Hel
    Jep, Zustimmung, aber ich sah Jürgens Artikel eh als Kommentar zur Flachinterpretation. Die olfaktorische Diskussion kam ja dann von außen.
    Zum Flehmen….Nun ja, Katzen haben nun mal ein sehr gut funktionierendes Jacobson-Organ. Also nutzen sie es, wenn es was zu erschnüffeln gibt, das von der Molekularstruktur her ins Muster passt. Und wahrscheinlich reicht das Waschen mitunter nicht aus, um alle Spuren zu beseitigen…