Die Idee, die afghanischen Taliban (politisch) ans Herz zu drücken, würde uns Westlern auch ohne die Ereignisse des 11. September 2001 vermutlich nicht sehr behagen: Allein schon ihr Umgang mit Frauen und Frauenrechten ist unvereinbar mit dem, was wir “Menschenrecht” nennen. Doch die Tatsache, dass nach den 9/11-Anschlägen rund 70 Staaten (darunter auch die Bundesrepublik Deutschland) mit der “Operation Enduring Freedom” den militärischen Einsatz gegen die Taliban beschlossen, ist ohne die de-facto-Gleichsetzung dieser afghanischen Fundamentalisten mit Osama Bin-Ladens militanter Al-Qaida nicht erklärbar – “with us or against us”, mit uns oder gegen uns, das waren die einzigen Alternativen, die George W. Bush akzeptieren wollte. Der Haken ist nur: Offenbar waren die Taliban und Al-Qaida auch schon vor dem 11. September alles andere als Freunde, und danach hätte es für den Westen durchaus eine Chance gegeben, die Kooperation der afghanischen Führung im Kampf gegen Al-Qaida und damit auf der Jagd nach Bin-Laden zu gewinnen – und diese Chance besteht auch heute noch. Dies jedenfalls kann man einem Bericht entnehmen, den die New York University am heutigen Montag präsentiert hat:
The Taliban and al-Qaeda remain distinct groups with different goals, ideologies, and sources of recruits; there was considerable friction between them before September 11, 2001, and today that friction persists.
Die Autoren des Berichts, Alex Strick van Linschoten und Felix Kuehn leben und arbeiten seit 2006 in Kandahar; ihre Kenntnis der Taliban ist, davon gehe ich aus, profund und up-to-date. Ich halte den Bericht, soweit ich mein eigenes angelesenes Teil-Wissen darin verankern kann, für solide und glaubhaft. Er deckt sich auch mit dem, was ich aus persönlicher Anschauung über die Kultur in diesem Teil der Welt zu wissen glaube: dass die Taliban, namentlich ihr Anführer Mullah Mohammed Omar, gar keine Wahl sahen, als ihren “Gast” Osama Bin-Laden zu schützen – ob sie ihn nun mochten oder nicht.
The core leadership of the Taliban and al-Qaeda came from different ideological, social, and cultural backgrounds and were of different nationalities and generations. The trajectories of the lives of al-Qaeda’s leaders, none of them Afghans, can be traced back to political developments in the Middle East. More often than not these leaders engaged for decades in militant campaigns against their home governments. Their movements responded to regional events, mainly in the Arab world, and were based on the militant Islamism formulated by Arab ideologues like Sayyid Qutb in the 1960s and earlier. Most of those who would eventually form the Taliban, were too young even to attend school at the time. They grew up in rural southern Afghanistan, isolated from both global political events and the developments in political Islam that the Arabs were exposed to.
Sensibleres Vorgehen der USA und ihrer Alliierten hätte nicht nur eine Chance eröffnet, Bin-Laden zu fassen (welche Folgen dies für den Fortbestand von Al-Qaida gehabt oder nicht gehabt hätte, sei dabei mal dahingestellt) – sie hätte auch verhindern können, dass nun eine neue Generation von Afghanis herangewachsen ist, die durchaus empfänglich für die Jihad-Ideen wurde:
Members of the youngest generation, often raised solely in refugee camps and madrasas in Pakistan, have no experience of traditional communities, productive economic activity, or citizenship in any state; they are citizens of jihad. Al-Qaeda operatives have been known to seek out direct contact with such younger Taliban field commanders inside Afghanistan. Where the old leadership speaks of a fight against foreign invaders, the new generation is adopting the discourse of fighting against infidel crusaders. With al-Qaeda making tentative advances, its worldview increasingly infiltrates the younger generation of the Afghan Taliban.
Hinterher ist man, wie das Sprichwort sagt, immer klüger. Und der Bericht ist, meiner Ansicht nach, auch nicht als Kritik an der damaligen US- und Weltpolitik gemeint. Politik ist ja angeblich die “Kunst des Machbaren” – in jedem Fall aber ist sie ein Resultat des Verfügbaren. Und solche Informationen, wie sie Kuehn und Strick in fünf Jahren sammeln konnten, standen vor knapp zehn Jahren gewiss nicht zur Verfügung. Aber er ist sicher eine Warnung, die gegenwärtige Politik zu modizifieren. Und das heißt sicher nicht, den Taliban einen Persilschein auszustellen. Aber dass man einen Weg finden muss, sie in den politischen Prozess zumindest so weit einzubinden, dass sie nicht länger – durch gemeinsame Gegnerschaft – zu Zwangsverbündeten von Terrororganisationen werden:
Many Taliban leaders of the older generation are still potential partners for a negotiated settlement. They are not implacably opposed to the U.S. or West in general but to specific actions or policies in Afghanistan. These figures now understand the position of the international community much better than they did before 2001. (…) There would be support for a break with al-Qaeda within the senior leadership, but how this is addressed will determine how effective the break is to be. What is highly likely is that engagement on a political level will create opportunities that do not yet exist.
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