“Na, das ist doch nix Neues”, dürften nun einige Prominente sagen – seien es Hollywoodstars, Politiker oder diskreditierte Bischöfe (eine zufällige und schnell ergoogelte Auswahl). Der Versuch, einer moralischen oder juristischen Verurteilung dadurch zu entkommen, dass man sich selbst zum Opfer – von was auch immer – erklärt, ist aber nicht nur eine längst praktizierte Masche. Er ist auch, wie ein neues
belegen soll, eine wissenschaftlich nachweislich erfolgreiche Strategie. Der Artikel, in dem Kurt Gray vom Maryland Mind Perception and Morality Lab und Daniel Wegner darlegen, dass es vom Held zum Bösewicht in den Augen der Öffentlichkeit oft nur ein kleiner Schritt ist, während ein Opfer fast immer mit mildem Verständnis rechnen kann, wird in der März-Ausgabe des Journal of Experimental Psychology erscheinen.
Da ich das Paper als .pdf hier verlinkt habe (und es mit einer Länge von fünf Seiten relativ schnell selbst zu lesen ist), will ich mich her aufs Wesentliche beschränken. Die Autoren gehen aufgrund früherer Forschung davon aus, dass sich soziale Rollen prinzipiell in zwei Kategorien einteilen lassen: entweder als “moralische Agenten” (die Gutes/Böses tun), oder als “moralische Patienten” (denen Gutes/Böses angetan wird). Dabei ist diese Rollenzuweisung, also die Trennung zwische Agenten und Patienten, auf Dauer stabiler als die Einordnung innerhalb der Rolle. Das heißt, ein Held kann auch Bösewicht sein, da beides Agenten-Rollen sind – aus einem Wahrnehmung als Opfer (Patient) jedoch nicht so leicht die eines Täters (Agent) werden.
Wenn sich dies belegen ließe, dann wäre es nie die bessere Verteidigungsstrategie, auf frühere Verdienste und Leistungen hinzuweisen, sondern immer, sich als Opfer (zum Beispiel eines prügelnden Vaters – sage ich jetzt mal) zu präsentieren. Gray und Wegner haben dazu drei separate Versuchsreihen mit jeweils rund 90 Teilnehmern durchgeführt:
Im ersten Test mussten sie über eine moralisch verwerfliche Handlung einer Person entscheiden, die ihnen mal als Held, mal neutral, mal als Opfer präsentiert wurde: Die Person, genannt George, hatte gesehen, wie eine Frau einen Zehn-Dollar-Schein verlor, ihn aber aufgehoben und für sich selbst behalten. Ein Drittel der Versuchteilnehmer erfuhr über George, dass er von seinem Verdienst von 600 Dollar wöchentlich jeweils hundert Dollar für wohltätige Zwecke spendet – das war der heldenhafte George. Dem Opfer George, das der zweiten Gruppe präsentiert wurde, zieht der Vorarbeiter wöchentlich hundert Dollar für sich selbst ab und droht, in zu entlassen, wenn er sich beschwert. Als neutrale Variante wurde der dritten Gruppe ein George präsentiert, der sein Geld für sich behalten und ausgeben kann. Die Testpersonen musste dann auf einer Skala zwischen eins (keine Schuld) und fünf (extreme Schuld) das Verhalten “ihres” George einordnen – und in der Tat wurde das Opfer deutlich milder (2,58) beurteilt als der Held (3,26), und auch milder als der neutrale George (3,06).
Im zweiten Test mussten die Versuchspersonen anhand verschiedener Szenarien zwischen zwei Personen, Michael und Jeffrey, entscheiden, die sich bei gleichermaßen schuldig gemacht hatten: Sie hatten als Köche die Erdnussallergie einer Kundin ignoriert und sie damit beinahe umgebracht. Einer muss dafür entlassen werden – aber wer? Auch hier werden wieder verschiedene Opfer-Helden-Kombinationen durchgespielt: Die Helden-Eigenschaft war dadurch definiert, dass Michael oder Jeffrey als Student(en) eine Hilfsorganisation gegründet hatten; als Opfer hatten sie einen schweren Verkehrsunfall in ihrer Studienzeit überlebt; die neutrale Position verriet den Testpersonen, Jeffrey oder Michael hätten als Studenten in einem Eisenwarenladen gearbeitet. Zu entscheiden war nun erstens, wen die größere Verantwortung trifft, und zweitens, wer zur Sühne entlassen wird. Auch hier trafen sowohl Verantwortung als auch Konsequenzen zuallererst den Helden, dann den neutralen Mann, dann das Opfer.
Im dritten Test wurde den Testpersonen ein Szenario aus dem Alltag eines fiktiven Geschäftsmannes namens Graham präsentert, der mal als Held (er engagierte sich als Student bei Hilfsorganisationen und half bei Häuserbau für Katastrophenopfer in der Dritten Welt), mal als Opfer (wiederum eines Verkehrsunfalles, bei dem ihm beide Beine gebrochen wurden) und mal neutral beschrieben wurde. Auch dieser Graham behält den verlorenen Zehn-Dollar-Schein für sich, was aber beiläufig in einer Reihe von Schilderungen seines Alltags erwähnt wird. Hinterher mussten die Testpersonen fünf Dinge über Graham aufschreiben, an die sie sich erinnerten: 68 Prozent hatten sich die Fundunterschlagung des “Helden” Graham gemerkt, 63 Prozent die des neutralen Graham, und nur 42 Prozent die des “Opfers” Graham. Fazit der Autoren:
Through three studies, we found that it pays to be a victim when trying to escape blame. Heroes, on the other hand, are afforded little clemency, and depending on the situation, may actually earn increased blame. This effect did not appear to be stem from differences in sympathy, but instead from perceptions of the mind of the perpetrator–specifically the capacities of Agency and Experience.
Mit anderen Worten: Nicht nur, dass es nicht hilft, auf frühere Verdienste und Leistungen hinzuweisen – es macht die moralische Verfehlung eher noch größer. Die Opferrolle wäre demnach die bessere Verteidigungsstrategie. Aber, wenn ich hinzu fügen kann, vielleicht auch nur bei relativem Kleinkram wie dem einbehaltenen Geldfund. Bei schwereren Delikten – die hier ja nicht untersucht wurden – hilft vielleicht auch die Berufung auf selbst erlittenes Unrecht nicht. Zumindest würde ich das hoffen wollen.
Kommentare (9)