Zu diesem etwas provozierend formulierten Resultat kommt ein Paper von John J. Shea, einem Anthropologen an der State University of New York (SUNY) in Stony Brook, Long Island, das in der aktuellen Ausgabe von Current Anthropology erschienen ist: Homo sapiens Is as Homo sapiens Was. Gemeint ist, dass das angeblich Moderne an uns – nämlich das Verhalten – nicht moderner ist als das, was schon unser Höhlen bewohnenden (und gerne als grunzende, keulenschwingende Primitivlinge dargestellten) Vorfahren an den Tag legten.
Als jemand, der zwar mit den Methoden der empirischen Sozialforschung (die sich ja mit dem “modernen Verhalten” befassen), nicht aber mit den Erkenntnissen der paläoanthropologischen Forschung vertraut ist, konnte ich mir bisher schon den privaten Luxus leisten, zum Beispiel keinen Unterschied in der künstlerischen Ausdrucksfähigkeit unsere Urahnen und unseren modernen Künstler zu sehen: Man muss sich nur diesen 14.000 bis 16.000 Jahre alten Bison aus der Höhle von Altamira (Spanien; Abb. rechts) anschauen – ich habe ihn leider nur als Reproduktion in einer früheren Ausstellung des American Museum of Natural History sehen können – um zu begreifen, dass der gleiche Künstler, der mit wenigen Kohlestrichen sowie etwas Hämatit und Ocker das Wesen dieses Tieres einfing, mehr von Kunst verstand als 99 Prozent unserer gebildeten Gesellschaft.
Oder jene etwa 33.000 Jahre alten Pferdeköpfe aus der Chauvet-Höhle im Ardeche-Tal – erinnern sie nicht bereits an moderne Animationen? Sieht man nicht diese individuellen Pferdeköpfe nicken? Ich würde glauben, dass der Maler jener Tierporträts auch heute sein Leben als Künstler bestreiten könnte …
Aber ich schweife ab. Es geht in dem Paper ja nicht darum, was ich denke, sondern darum, dass – offenbar – in der Anthropologie immer noch das eurozentrische (weil hier erfundene und sich auf hiesige Funde stützende) Konzept einer gerichteten Verhaltensentwicklung akzeptiert ist. Will heißen: Anatomisch waren demnach unsere jungpaläolithischen Ahnen vielleicht schon so weit entwickelt wie wir – aber danach folgte eine lange Verhaltensevolution, die uns erst zu dem machte, was wir heute sind. Und diesem Bild widerspricht Shea in seinem Paper, für das er sich primär auf Funde in Ostfrika stützt, die einen weit größeren Zeitraum – etwa 200.000 Jahre – abdecken als die europäischen Artefakte. Und trotz dieses langen Zeitraums ist keine “kulturelle Revolution” zu beobachten. Unterschiedliche Qualitäten der Werkzeugherstellung reflektierten demnach nicht etwa eine unterschiedliche Entwicklungsstufe, sondern verschiedene Strategien, sich an die jeweiligen Notwendigkeiten anzupassen. Mit anderen Worten: Die Variatonsbreite des Verhaltens sei damals nicht kleiner gewesen als heute.
Nicht, dass ich hier für oder gegen diese These Stellung beziehen könnte oder wollte. Das sollen die Paläonathropologen unter sich ausmachen. Aber ich kann über Filme wie Steinzeit Junior (Enncino Man) oder die aus einer Serie von Versicherungs-Werbespots entstandene TV-Serie Cavemen schon lange nicht mehr lachen…
Fotos: Bison (Altamira) via Wikimedia Commons; Pferde (Chauvet) via Wikimedia Commons
Kommentare (20)