Der nachfolgene Beitrag war in seiner ursprünglichen Form als Kommentar zum Eintrag Placebo erklärt erschienen. Auf meine Anregung hin hat der Autor Florian Albrecht, praktizierender Mediziner in der Schweiz, ihn hier noch einmal – in überarbeiteter und ergänzter Form – als Gastbeitrag eingestellt.
Verwirrung um BÄK-Stellungnahme: Sollen Placebos wirksame Medikamente ersetzen?
von Florian Albrecht
In den letzten Tagen hatte es auf verschiedenen Blogs ein paar Irritationen wegen einer im vergangenen Sommer herausgegebenen Stellungnahme der Bundesärztekammer (BÄK) zum Thema „Placebo in der Medizin” gegeben. In deren Folge war in einigen Medien geäussert worden, die BÄK fordere den vermehrten Einsatz von Placebos zur Kostensenkung im Gesundheitswesen. Dieser Eindruck wurde auch noch durch einen Artikel von Prof. Dr. Giovanni Maio, Medizinethiker an der Universität Freiburg i.Br., verstärkt, der aber mE auch ein wenig an der Kernaussage der BÄK-Stellungnahme vorbeigeht.
Denn es geht in diesem Papier erst einmal gar nicht darum, wirksame Medikamententherapien plötzlich durch Placebo-Behandlungen zu ersetzen. Sondern vielmehr darum, den Placebo-Effekt überhaupt erst einmal besser zu erforschen. Erst dann kann überhaupt darüber nachgedacht werden, ihn künftig vermehrt und vor allem viel gezielter in der Medizin einzusetzen. Außerdem würde man auch sehr viel über die Wirkungsweise der bereits im Gebrauch befindlichen medizinischen Wirkstoffe (Verum) erfahren, da auch bei deren Anwendung mutmaßlich ein gewisser Placebo-Effekt mit im Spiel sein dürfte.
Eine ganz besondere Rolle spielen die sog. „Schein-Placebos”. Das sind Medikamente, die zwar eine nachweisliche Wirkung im menschlichen Körper haben, bei denen jedoch die tatsächlich festgestellten Effekte auf die Erkrankung des Patienten noch darüber hinaus gehen. Sollten diese Schein-Placebos ohne größere Probleme durch „echte” Placebos ersetzt werden können, könnte eine Menge Geld im Gesundheitswesen eingespart werden.
Aber, wie gesagt, die Intention der BÄK-Stellungnahme ist keineswegs, wirksame Medikamenten-Therapien durch Placebos zu ersetzen. Das wird in der Stellungnahme auch eindeutig festgehalten:
Da die experimentelle Placeboforschung zeigt, welchen Nutzen der Patient aus einer Placebogabe ziehen kann (z. B. Verringerung von Nebenwirkungen), so hält die Mehrheit der Mitglieder des Arbeitskreises aus ethischer Sicht die bewußte Anwendung von reinem Placebo oder so genanntem „Pseudo-Placebo” in der therapeutischen Praxis (außerhalb Klinischer Studien) durchaus für vertretbar, und zwar unter folgenden Voraussetzungen und unter Beachtung der herrschenden Rechtsaufassung:
- Es ist keine geprüfte wirksame (Pharmako-)therapie vorhanden.
- Es handelt sich um relativ geringe Beschwerden und es liegt der ausdrückliche Wunsch des Patienten nach einer Behandlung vor
- Es besteht Aussicht auf Erfolg einer Placebobehandlung.bei dieser Erkrankung
Also soll eine künftige Placebo-Therapie eher eine Art Ergänzung zur konventionellen Behandlung sein. Dem kann man sich ja so ohne weiteres auch nicht verschließen.
Somit könnte man dieses Thema ja erst einmal abhaken. Wenn nicht die gesamte Stellungnahme sowohl in der allgemeinen Presse, als auch in Ärztekreisen erst einmal gründlich mißverstanden worden wäre. Und auch hier auf den ScienceBlogs war es nicht anders. Da kamen in den letzten 3 Tagen ein paar grundsätzliche Debatten über die Frage, ob der Einsatz von Placebos in der Medizin überhaupt ethisch vertretbar ist, auf.
Ich muß zugeben: ich habe auch erstmal eine Weile gebraucht, bevor ich die BÄK-Stellungnahme korrekt verstanden hatte. Und ich habe mich auch durch das Medienecho dazu irritieren lassen. Deshalb habe ich auch auf Jürgens Blog einen Kommentar verfasst, der sich mit der Problematik der Placebo-Anwendung im Allgemeinen auseinandersetzt.
Hier ist nun dieser Kommentar (mit ein paar kleineren Korrekturen und Anpassungen):
Zuerst einmal ist der Placebo-Effekt nicht kalkulierbar. Nehmen wir z.B. einmal chronische Schmerzerkrankungen. Hier kann der Placebo-Effekt sicherlich dazu führen, daß ein Patient weniger bzw. weniger starke Schmerzmittel braucht. Was ja sowohl vom wirtschaftlichen Aspekt, als auch im Sinne eines verminderten Suchtrisikos (vor allem bei sehr starken Schmerzmitteln) wünschenswert wäre. Das Problem ist nur: bei manchen Patienten wird das Placebo eine sehr gute „Wirkung” zeigen, bei manchen aber auch überhaupt keine. Das ist nicht voraußehbar. Da es aber eine gewisse Zeit dauert, bis ich als Arzt einschätzen kann, ob der Patient tatsächlich vom Placeboeffekt profitiert, bedeutet das uU, den Patienten unnötig leiden zu lassen. „Unnötig” deshalb, weil ich als Arzt ihm eine wirksame Therapie vorenthalte. Das ist unethisch!
Ein vergleichbarer Ansatz gilt für Antidepressiva und Beruhigungsmittel. Auch hier können Placebos manchmal sehr hilfreich sein. Aber eben auch überhaupt nicht. Im schlimmsten Fall kann die Gabe eines Placebos sogar dazu führen, daß ein Patient so sehr verzweifelt (weil die ihm vom Arzt verordneten und als großartig angepriesenen Medikamente ihm auch nicht helfen können – was die Befürchtung verstärkt, nichts und niemand könne ihm mehr helfen), daß der Patient sich suizidiert. Was unter einer Verum-Therapie mit Antidepressiva höchstwahrscheinlich vermeidbar gewesen wäre. Also ist auch hier der Einsatz von Placebos unethisch.
Grundsätzlich wären aber sicherlich diejenigen Krankheiten und Symptombilder, bei denen die bewußte und unterbewußte Wahrnehmung eine große Rolle spielen, am besten für eine Placebotherapie geeignet. Insbesondere Schmerzen und Schmerzwahrnehmung sind etwas sehr Subjektives, dazu gibt es viele Studien. Auch leichtere Depressionen oder Angsterkrankungen wären geeignete „Kandidaten”. Aber schon bei Erkrankungen aus dem psychotischen Formenkreis wird es schwierig, weil diesen oft gravierende Ungleichgewichte der Neurotransmitter (Botenstoffe im Hirnstoffwechsel) zugrunde liegen. Diese sind der „Heilkraft des Geistes” dann schon nicht mehr so ohne weiteres zugänglich. Auch dies wurde in diversen Studien belegt, außerdem lehrt uns schon allein die Medizingeschichte diese Lektion, wenn man sich einmal anschaut, wie die Erfolgsaussichten einer psychiatrischen Therapie vor der Erfindung der Neuroleptika aussahen.
Noch viel drastischer wird es bei rein organischen Therapien, bei denen der Hirnstoffwechsel keinerlei Rolle spielt. Ich möchte dazu einmal zwei Beispiele anführen: Antibiotika und Insulin.
Zugegeben, nicht jede Infektion, die heutzutage mit Antibiotika behandelt wird, fordert zwingend solche Medikamente (ich fürchte, daß dieser Satz wieder einmal aus dem Zusammenhang gerissen und als Trollfutter verwendet wird, aber ich schreibe es trotzdem). Auch mit vielen bakteriellen Infektionen kann ein gesunder Körper oftmals gut fertig werden. Aber eben nicht immer. Und als Arzt weiß ich eben nicht im voraus, ob es bei einem Patienten Komplikationen geben wird. Weil ich gar nicht alle beteiligten Faktoren bestimmen kann. Ein Beispiel wäre eine bakterielle Sinusitis (Nasennebenhöhlenentzündung). Viele davon heilen nach einer gewissen Zeit von selber wieder aus. Die Symptome sind zwar lästig und die ganze Angelegenheit kann recht schmerzvoll sein, aber in vielen Fällen wird ein gesunder Körper recht gut damit fertig. Aber es gibt ein Reihe von Risikofaktoren. Einer der harmloseren wäre noch, wenn sich die Bakterien von den Kieferhöhlen ausgehend in den Kieferknochen ausbreiten. Dies kann dann den Patienten durchaus mal den einen oder anderen Zahn kosten. Oder sogar den Oberkiefernerv angreifen, woraus eine chronische Nervenentzündung mit nachfolgend chronischen Gesichtsschmerzen resultieren kann. Deutlich schwerwiegender wäre der Fall dann, wenn die Bakterien im oberen Nasenraum das sog. „Siebbein” (einen – wie der Name schon andeutet – recht porösen Knochen) passieren. Direkt dahinter liegt nämlich schon das Gehirn – eine Meningitis (Hirnhautentzündung) oder gar Encephalitis (Hirnmassenentzündung) wäre die Folge. Und die kann zu bleibenden Hirnschäden oder sogar zum Tod führen.
Ein weiteres Risiko einer bakteriellen Sinusitis liegt darin, daß die Nase sehr gut durchblutet ist. Treten Bakterien in die Blutbahn über, so können sie praktisch alle inneren Organe befallen. Die dadurch entstehenden Schäden können so schwerwiegend sein, daß die entsprechenden Organe zeitweise oder sogar auf Dauer ausfallen. Im Falle eines Nierenausfalls bedeutet dies eventuell lebenslange Dialyse, es sei denn, es wird ein Organspender gefunden. Bei der Leber wird es uU noch dramatischer. Weil man die komplizierten Entgiftungsfunktionen der Leber noch nicht so wirklich durch Apparate ersetzen kann, bedeutet ein Leberausfall meist: entweder es wird innerhalb weniger Stunden ein Spenderorgan gefunden, oder der Patient stirbt. Von den schweren Schäden, die Bakterien am menschlichen Herzen anrichten können, will ich mal gar nicht sprechen.
Zugegeben, die Wahrscheinlichkeit für derartige Probleme ist bei der Sinusitis nicht sonderlich hoch. Bei einer Pneumonie (Lungenentzündung) ist sie schon viel höher. In der Zeit vor der Entdeckung der Antibiotika gab es ja auch immer wieder Menschen, die eine bakterielle Lungenentzündung ohne Folgen überlebt haben. Auch heute gibt es die noch. Aber sie sind in der Minderheit. Und wenn ich einen Patienten mit über 99%iger Wahrscheinlichkeit vor schweren Folgen oder gar dem Tod bewahren kann, dann ziehe ich eine solch’ zuverlässige Therapie in jedem Fall der Alternative, daß der Patient mit 30, 50 oder sogar 70% Wahrscheinlichkeit schwere Schäden aus der Nichtbehandlung davonträgt, vor.
Man sieht: es gibt gute Gründe, bei bakteriellen Infektionen stets frühzeitig Antibiotika anzuwenden, und eben nicht nur auf die Selbstheilungskräfte des Körpers zu vertrauen. Wobei ich da in meiner eigenen Praxis durchaus differenziere: bei einer bakteriellen Lungen- oder Rachen-/Mandel-/Kehlkopf-entzündung gebe ich sofort Antibiotika, da hier der Verlauf der Infektion uU sehr schnell voranschreiten kann. Bei Patienten mit Blasenentzündung gebe ich oftmals die Anweisung (nach Ausschluss einer bereits beginnenden Nierenbeteiligung, denn diese müßte wiederum sofort antibiotisch behandelt werden), erst einmal 1-2 Tage viel zu trinken (gegebenenfalls auch noch Preiselbeersaft, da dessen Nieren-Metabolite tatsächlich im Urogenitalsystem eine leichte entzündungshemmende und antibakterielle Wirkung entfaltet); falls es sich dann nicht bessert (oder sogar schlimmer wird), bekommt der Patient dann doch Antibiotika. Auch bei einer leichten Sinusitis verfahre ich manchmal so – der Patient soll inhalieren und Nasenspray gegen die Entzündung anwenden. Auch pflanzliche Präparate auf der Basis von Enzianwurzel, Schlüsselblumen- und Holunderblüten (im Handel u.a. Unter dem Namen „Sinupret”™ erhältlich) können sinnvoll sein. Ist es nach 2-3 Tagen nicht deutlich besser, soll er wiederkommen und sich ein Antibiotikum abholen.
Aber bei dieser Verfahrensweise brauche ich zu keinem Zeitpunkt Placebos. Ich sehe auch nirgendwo einen Platz dafür. Wichtig ist die genaue Aufklärung des Patienten über Warnsymptome und mögliche Komplikationen sowie die korrekten Verhaltensweisen im Alltag. Damit kann man dann immer wieder tatsächlich das Antibiotikum einsparen – aber eben nicht durch den Einsatz von Placebos. Im Gegenteil: ein Placebo könnte dem Patienten sogar eine falsche Sicherheit vorgaukeln, so daß der Patient die Warnzeichen einer Verschlechterung nicht früh genug realisiert und nicht rechtzeitig wieder zum Arzt geht (in der Homöopathie wird dies ja als “Erstverschlechterung” verklärt – mit bisweilen dramatischen Folgen).
Zweites Beispiel: Insulin. Hier ist es noch wesentlich klarer und eindeutiger. Die Bauchspeicheldrüse eines Typ-I-Diabetikers ist schlicht und ergreifend nicht in der Lage, (ausreichend) Insulin zu produzieren. Da hilft auch kein Glaube und keine Selbsheilungskraft! Wenn der Blutzuckerspiegel nicht reguliert wird, kommt es zwangsläufig zu Komplikationen, zu Organschäden, im schlimmsten Falle zum Koma oder gar zum Tod. Ich glaube, da brauchen wir gar nicht zu diskutieren – bei solchen Erkrankungen gibt es keinerlei Anwendungsbereich für Placebos.
In dem Artikel von Prof. Maio wird noch ein weiteres Problem der Placebo-Behandlung deutlich: einerseits darf der Patient nicht erfahren, womit er behandelt wird, andererseits soll er aber über die „Therapie” bestmöglich aufgeklärt werden. Das ist für den behandelnden Arzt bereits ein großes Dilemma. Und dieses geht dann beim Apotheker weiter.
Denn dem „Medikament” müßte ja korrekterweise auch ein Beipackzettel beigefügt werden, der u.a. den enthaltenen Wirkstoff, aber auch die möglichen Risiken und Nebenwirkungen auflistet. In unserer heutigen Informationsgesellschaft googeln aber viele Patienten bereits nach Details ihrer Erkrankung genauso, wie nach den ihnen verordneten Wirkstoffen. Insbesondere bei chronisch Kranken ist diese Vorgehensweise sehr verbreitet. Nehmen wir noch einmal den chronischen Schmerzpatienten als Beispiel: er würde in vielen fällen recht schnell bemerken, daß ihm der Arzt Zuckerpillen verordnet hat. Das kann dann das Vertrauen in diesen Arzt (oder im Extremfall sogar in alle Ärzte) schwer erschüttern. Und wie wollte man bei einem Placebo überhaupt einen Beipackzettel so überzeugend gestalten, daß der Patient einem die Wirksamkeit abkauft? Man müßte schon einige (nicht vorhandene) Nebenwirkungen aufzählen – was strenggenommen eine Urkundenfälschung darstellt. Manch ein Patient würde sogar nach Lektüre des Beipackzettels genau diese Nebenwirkungen bei sich feststellen (ja: auch das beinhaltet der Placebo-Effekt – mehrere Studien haben bereits bewiesen, daß Patienten, die stets sehr aufmerksam den Beipackzettel studieren, deutlich mehr bzw. häufiger die darin beschriebenen Nebenwirkungen bei sich bemerken, als diejenigen, die den Beipackzettel nur oberflächlich oder sogar gar nicht lesen!). Damit wäre ein wichtiges Ziel der Placebo-Therapie verfehlt.
Und der verordnende Arzt – und auch der abgebende Apotheker – müssen außerdem über ein gewisses schauspielerisches Grundtalent verfügen. Sie müssen nämlich sehr überzeugend beim Patienten ‘rüberkommen, der Patient muß ja schliesslich an das Medikament glauben. Und dabei spielt es eine grosse Rolle, ob er das Gefühl hat, der Arzt sei von dem Medikament überzeugt.
Aus genau diesem Grunde werden ja auch Arzneimittelstudien “doppelverblindet” durchgeführt, d.h. nicht nur der Patient hat keine Ahnung, ob er nun ein Placebo oder das Verum erhält, auch der Arzt weiß es nicht. Weil er nämlich sonst – und sei es nur auf einer sehr subtilen unterbewussten Ebene – den Patienten (und damit auch das Studienergebnis) beeinflussen könnte.
In dem genannten Artikel wird auch der wirtschaftliche Gesichtspunkt angesprochen: Placebo-Therapie sei billiger als die Behandlung mit Verum. Vordergründig mag dies ja stimmen, aber wenn ich die Gefahr mit einrechne, daß zugunsten eines Versuchs einer Placebo-Behandlung eine Therapie mit Verum zu spät begonnen wird, was dann uU zu Komplikationen führen kann, deren Behandlung am Ende viel teurer kommt als das ursprüngliche Einsparpotential, so verliert das monetäre Argument doch wieder deutlich an Gewicht. Genau dieser Faktor ist ja auch ein grosses Problem der Homöopathie, die ja immer wieder behauptet, im Versagensfall könne ja später immer noch mit „schulmedizinischen” Medikamenten behandelt werden.
Außerdem werden sicherlich manche Patienten mißtrauisch werden, wenn ihre Therapie nach der Umstellung auf ein Placebo plötzlich so billig wird. Beim durchschnittlichen deutschen Kassenpatienten ist dies sicherlich noch nicht so sehr der Fall – der weiß ja im Regelfall gar nicht, wie teuer seine Medikamente sind, weil die Kasse direkt mit dem Apotheker abrechnet. Bei Privatpatienten wird das dann schon schwieriger – die zahlen das Medikament in der Apotheke zunächst selber und reichen dann die Rechnung bei ihrer Versicherung zur Erstattung ein. Daher wissen sie stets sehr genau, wie teuer ihre Pillen sind.
Und in Ländern, in denen die Patienten grundsätzlich für ihre Medikamente in Vorleistung treten bzw. an den Arzneimittelkosten prozentual beteiligt werden (wie z.B. hier in der Schweiz), ist es dasselbe Problem.
Eventuell kann man den Placebo-Effekt ja bei stationären Behandlungen im Spital nutzen. Was auch durchaus geschieht. Sehr oft erhalten z.B. Patienten nach Operationen Schmerzmittel im Wechsel mit Placebos, um die Schmerzmittel-Gesamtdosis niedrig zu halten. Auch bei Patienten, die über Schlafstörungen während des Klinikaufenthaltes klagen, helfen Placebos oftmals recht gut.
All dies habe ich während meines Studiums an der Medizinischen Hochschule Hannover selber erlebt. Insgesamt recht beeindruckend. Aber damit erschöpfen sich dann auch die Möglichkeiten. Und bei einem Patienten im Spital habe ich als Arzt natürlich auch ganz andere (vor allem schnellere) Überwachungs- und Interventionsmöglichkeiten, als in der Praxis.
Abgesehen davon entstehen manchmal auch Probleme nach der Entlassung aus dem Spital, wenn der Patient „das tolle Medikament aus der Klinik” plötzlich auch vom Hausarzt weiter verordnet haben möchte.
Zusammenfassend kann man also sagen:
1. Der Placeboeffekt ist nicht kontrollierbar und unterliegt starken Schwankungen
2. Auch bei ein- und derselben Erkrankung kann niemals sicher abgeschätzt werden, welche Komplikationen sich einstellen, und vor allem wie schnell.
3. Die Umsetzung einer Placebo-Behandlung in einem ambulanten Setting ist sehr schwierig und weist etliche Fallstricke auf. Im schlimmsten Fall kann der Patient dadurch das Vertrauen in seinen Arzt oder sogar die gesamte Ärzteschaft verlieren.
4. Bei vielen Krankheiten kommt ein Placebo-Einsatz gar nicht erst in Frage. Und bei den übrigen Erkrankungen kann er ein ethisches Problem darstellen.
Aber ich muß auch noch erwähnen, daß Placebo-Effekte auch in der alltäglichen Praxis vorkommen. Allerdings eher ungewollt. Es gibt nämlich Medikamente, die aufgrund von Studien und Laborversuchen sehr viel schlechter respektive seltener wirken müßten, als sie es in der Realität tun. Ein sehr gutes Beispiel sind die sog. „Expectoranzien”. Das sind Medikamente, die bei schweren Erkältungen, vor allem mit Beteiligung der Bronchien, das Lösen und Abhusten des Schleims fördern sollen. Und allen voran sei hier das „Acetylcystein” (ACC) erwähnt. Da wurde nämlich in der jüngeren Vergangenheit festgestellt, daß rund 30-40% aller Patienten überhaupt nicht auf die Gabe dieses Medikaments ansprechen können – weil ihnen ein bestimmtes Enzym fehlt. Und auch beim Rest der Bevölkerung dürfte ACC lange nicht so gut wirken, wie es das augenscheinlich tut. In Befragungen geben aber über 3/4 der Patienten an, ACC hätte ihnen gut bei der Schleimlösung geholfen. Wie kommt das?
Eine diskutierte Erklärung ist, daß die Einnahme von ACC die tägliche Trinkmenge erhöht. Denn ACC ist ein Pulver, welches in einem Glas Wasser aufgelöst und dann getrunken wird. Und es ist bewiesen, daß sich der Schleim auf den Atemwegen umso besser löst, je mehr ein Patient trinkt. Wird nun ACC dreimal täglich (Standarddosis 3x200mg) eingenommen, so werden allein dadurch 5-6 dl Flüssigkeit zusätzlich aufgenommen.
Aber es gibt auch eine Darreichungsform von ACC, die im Körper verzögert freigesetzt wird (ein sog. „Retard-Präparat”), so daß eine einmal tägliche Einnahme von 600mg morgens ausreichend wäre. Wobei dann nur 1-2 dl Flüssigkeit zusätzlich aufgenommen werden. Und dieses Retard-Präparat scheint nur marginal schlechter zu wirken, als die nichtretardierte Form, die mehrmals täglich eingenommen wird.
Allerdings ist es auch sehr schwierig, die Fälle miteinander zu vergleichen. Zum einen wird kaum darauf eingegangen, wieviel der Patient sonst noch über den Tag trinkt. Oder auch, wieviel er normalerweise (also wenn er nicht krank ist) so trinkt – der Wasserhaushalt des menschlichen Körpers ist nämlich bis zu einem gewissen Grad sehr individuell, weshalb sich auch kleinere Erhöhungen der Trinkmenge im Krankheitsfall sehr stark auswirken können. Und dann kommen noch Faktoren ins Spiel wie: inhaliert der Patient noch begleitend? Hängt er vielleicht noch feuchte Tücher in der Wohnung auf, um die Raumluft anzufeuchten (was definitiv einen Effekt hat, da die Schleimhäute der Atemwege nicht so schnell austrocknen, was wiederum die Entzündungsreaktion des Körpers vermindert und damit zu einer geringeren Schleimproduktion führt)? Wendet er noch irgendwelche anderen Hausmittel an?
Oder hat ACC doch einen größeren Placeboeffekt, als bisher vermutet? Falls ja, müßte es als sog. „Pseudo-Placebo” eingestuft werden, also als ein Medikament, welches über die biochemisch erklärbare Wirkung hinaus noch einen anderen Effekt hat.
Nichtsdestotrotz verordnen sehr viele Hausärzte ACC bei Atemwegsinfekten – und das, obwohl sie wissen, daß es nicht oder nur wenig nutzt. Oftmals tun sie es, weil es die Patienten einfach erwarten. Auch dazu gibt es Studien: Patienten, die von ihrem Hausarzt bei einem banalen Infekt kein Rezept erhalten, sondern nur Anweisungen zur Selbstbehandlung mit einfachen Mitteln, gehen oftmals direkt nach dem Arztbesuch in die nächste Apotheke und kaufen sich dort irgendein freiverkäufliches Mittel, welches der Apotheker gerade empfiehlt. Und nicht selten sind diese Medikamente sehr viel fragwürdiger als das, was der Arzt verordnet hätte. Da dienen die Apotheker und ihre Helferinnen dem Patienten dann nicht selten Globuli oder Mode-Medikamente, wie z.B. Echinacea, an, die dann gleich gar keine Wirkung haben.
(Bevor jetzt Proteste kommen: nein, Echinacea hat keinen nachgewiesenen Effekt bei einer bereits bestehenden Infektion. Es regt zwar tatsächlich das Immunsystem an, aber dies tut es nur, weil es für den Körper ein Fremdstoff ist, der durch die Immunabwehr bekämpft wird. Aber bei einem bereits bestehenden Infekt ist die Immunabwehr ja sowieso schon in Alarmbereitschaft – ein zusätzlicher „Feind” wird daran nicht viel verbessern, sondern im schlimmsten Fall eher dafür sorgen, daß Ressourcen an Stellen abgezogen werden, wo sie eigentlich dringend gebraucht würden.
So daß dann eigentlich harmlose Infektionen in machen Fällen sogar heftiger oder mit mehr Komplikationen verlaufen, als wenn man das Sonnenhut-Präparat gar nicht erst genommen hätte. Und auch die vorbeugende Einnahme von Echinacea (z.B. während der Wintermonate), hat so ihre Tücken. Wird das Präparat nämlich über Wochen und Monate kontinuierlich eingenommen, so gewöhnt sich der Körper allmählich daran – und fährt das Immunsystem peu-à-peu wieder auf ein normales Maß herunter.
Das einzige, was vorbeugend wirklich dem Immunsystem hilft, ist eine regelmässige Vitamin-C-Zufuhr (wobei deren Wirkung dank Linus Pauling bis heute maßlos überschätzt wird), aber nicht aus Tabletten oder Kapseln, sondern durch Zufuhr über entsprechende Nahrungsmittel. Aus denen kann der Darm das Vitamin C nämlich bis zu 4x besser aufnehmen, als aus sog. „Nahrungsergänzungsmitteln” (weshalb diese heutzutage teilweise dermaßen überdosiert sind, daß der Urin der Einnehmenden, über den der Überschuß vom Körper wieder “rausgeworfen” wird, nicht selten eigentlich als „Sondermüll” deklariert werden müßte). Im akuten Infekt kann dann auch noch Zink recht wirksam sein, da es auch schon die bereits ablaufende Immunreaktion verstärkt. Aber Vorsicht: der Infekt wird zwar kürzer, dafür aber auch heftiger! Aber am besten wirkt bei leichten Atemwegsinfekten immer noch Hühnersuppe. Und die ist nicht nur rezeptfrei, sondern die Zutaten sind sogar in jedem Supermarkt problemlos erhältlich. Abgesehen davon handelt es sich hierbei um eine der schmackhaftesten medizinischen Therapien überhaupt.
Ende des Exkurses über die Behandlung des banalen Schnupfens.)
Letztlich steckt der (Haus-) Arzt also in vielen Fällen in einer Zwickmühle. Er muß einen Mittelweg finden zwischen den Erwartungen des Patienten und einer sinnvollen Behandlung. Und genau diese Erwartungen treten nicht immer so offen zutage, der Arzt ist also auch auf sein Gespür angewiesen. Dabei den richtigen Weg zu finden und auch immer wieder die Vertrauensbasis mit dem Patienten zu festigen ist ein sehr komplizierter Vorgang. Meiner Meinung nach würden zusätzliche Erwägungen, ob eine Placebo-Therapie im einzelnen Fall in Frage kommt, diesen Prozeß nur unnötig verkomplizieren und in einigen Fällen sogar gefährden.
Soweit erst einmal zu den grundlegenden Problemen einer Behandlung mit Placebo. Wie bereits ganz oben erwähnt, ist ein Ersatz der wirksamen Medikamente durch Placebo ja bisher auch gar nicht in Planung. Aber trotzdem sollten wir den Placebo-Effekt weiter erforschen. Und zwar nicht nur, um daraus Schlußfolgerungen für künftige Verum-Therapien zu ziehen, sondern auch, um endlich einmal einem in der letzten Zeit immer häufiger präsentierten „Argument” der Homöopathie zu entgegnen.
Da wird nämlich immer wieder gesagt (sinngemäß): „Selbst wenn die Homöopathie nur durch den Placebo-Effekt wirkt, kann die Anwendung durchaus sinnvoll sein. Weil es ja dem Patienten hilft.” Tja, wenn denn die Wirkung so zuverlässig wäre, wie die von medizinischen Arzneien, wäre dagegen ja auch gar nichts einzuwenden. Aber daß dem eben nicht so ist, sollte durch meine Ausführungen (hoffentlich) klar geworden sein.
In diesem Sinne: verlaßt Euch lieber auf das nicht nur „Bewährte”, sondern auch Bewiesene. Euer Körper wird es Euch danken.
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