Die Wucht des Erdbebens und des Tsunami werden uns vermutlich (und auch hoffentlich) immer unvorstellbar bleiben, aber nach der Lektüre dieses Berichts in der Mittwochausgabe der New York Times hat man vielleicht ein Gefühl für die menschlichen Tragödien. Vielleicht ist dies nur meine sentimentale Vaterseele, aber ich war sehr erschüttert zu lesen, wie die Schulkinder des Ortes Miniamisanriku von der zerstörerischen Welle gar nichts mitbekamen, weil ihre Schule auf einem Hügel liegt, und sich der Katastrophe erst bewusst wurden, als viele vergeblich auf ihre Eltern warten mussten – vermutlich 10.000 der 17.000 Einwohner des Ortes sind der Flutwelle zum Opfer gefallen.
Aber noch erschütterter – nein, eigentlich entsetzter – war ich, als ich in der gleichen Ausgabe den Artikel über die längst bekannten Sicherheitsmänge dieser Mark-1-Kernkraftwerke gelesen habe, die auch in den Fukushima-Anlagen stehen:
The warnings were stark and issued repeatedly as far back as 1972: If the cooling systems ever failed at a “Mark 1” nuclear reactor, the primary containment vessel surrounding the reactor would probably burst as the fuel rods inside overheated. Dangerous radiation would spew into the environment.
Dieser Satz bezieht sich auf die damalige Empfehlung von Stephen Hammer, einem Mitarbeiter der Atomaufsichtsbehörde, diese Mark-1-Reaktoren wegen ihrer Sicherheitsmängel aus dem Verkehr zu ziehen. Aber warum wurden die Reaktoren, eine Entwicklung des Konzerns General Electric, dann doch zahlreich gebaut (32 weltweit; allein in den USA sind es 23 Reaktoren in 16 Kraftwerken)? Weil sie dank ihrer leichter gebauten Druckbehälter billiger waren:
G.E. began making the Mark 1 boiling-water reactors in the 1960s, marketing them as cheaper and easier to build — in part because they used a comparatively smaller and less expensive containment structure.
Doch endgültig fassungslos war ich angesichts der Begründung, mit der Michael Tetuan, ein Sprecher von GE, gegenüber der Times diesen Reaktortyp nachdrücklich verteidigt: Er sei
the industry’s workhorse with a proven track record of safety and reliability for more than 40 years.
Seit 40 Jahren unfallfrei – und das sei ein “proven track record of safety”, ein Nachweis der Sicherheit für eine Technologie, die doch mit einer Wahrscheinlichkeit von einmal alle Millionen Jahre praktisch “risikofrei” sein soll?
Doch länger als 40 Jahre hat es eben nicht gehalten. Und nein, es sind nicht die Konstrukteure und die GE-Manager, oder wenigstens die Bosse der Tokyo Electric Power Company (Tepco), die unter Einsatz ihres Lebens und ihrer Gesundheit die verstrahlten Kastanien aus dem nuklearen Feuer holen. Sondern 50 anonyme Männer und vielleicht (aber wohl eher nicht) Frauen, die mit großer Wahrscheinlichkeit ihr Leben, mit Gewissheit aber ihre Gesundheit riskiert haben, um die havarierten Reaktoren der Fukushima-Nuklearanlagen doch noch irgendwie unter Kontrolle zu bekommen. Und so ganz freiwillig mag diese Entscheidung, wenn ich diese Stelle in der Mittwochs-Titelstory der New York Times korrekt interpretiere, nicht immer gefallen sein:
They are the faceless 50, the unnamed operators who stayed behind. They have volunteered, or been assigned, to pump seawater on dangerously exposed nuclear fuel, already thought to be partly melting and spewing radioactive material, to prevent full meltdowns that could throw thousands of tons of radioactive dust high into the air and imperil millions of their compatriots. (Hervorhebung von mir)
Und was tun, wenn sie dabei ein Vielfaches der zulässigen Strahlenbelastung abkriegen? Ganz einfach: man erhöht die Grenzwerte:
Japan’s Health Ministry said Tuesday it was raising the legal limit on the amount of radiation to which each worker could be exposed, to 250 millisieverts from 100 millisieverts, five times the maximum exposure permitted for American nuclear plant workers.
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