Dass Lesen bildet, ist zwar eine Binsenwahrheit (womit nichts gegen die Nützlichkeit der Juncaceae gesagt sein soll). Aber eben dennoch wahr. Wenn ich zum Beispiel nicht diesen Artikel von John Tierney in der Science-Beilage der New York Times gelesen hätte, in dem es darum geht, dass uns keine andere Wahl bleibt, als die Willensfreiheit zu akzeptieren, dann hätte ich vermutlich nie erfahren, dass es eine experimentelle Philosophie (im Fachjargon kurz X-Phi genannt) gibt.
Meine Beschäftigung mit der Philosophie hat nach meinem Abitur deutlich nachgelassen, und darum habe ich wohl einfach verpasst, dass der scheinbare Gegensatz zwischen der zumeist auf eher abstrakte Ideen und Konzepte ausgerichteten Philosophie und dem auf das Messbare abzielenden Experiment doch nicht unüberbrückbar ist. Aber vielleicht hat es sich auch nur noch nicht weit genug herumgesprochen, denn experimentelle Philosophie ist noch eine relativ junge Idee: Das älteste Paper, das auf der (oben verlinkten) X-Phi-Webseite zu finden ist, trägt den Titel Whose Concepts Are They, Anyway? The Role of Philosophical Intuition in Empirical Psychology und stammt aus dem Jahr 1998. Aber zum echten Trend wurde diese praktisch veranlagte Philosophie offenbar erst im Lauf des vergangenen Jahrzehnts; das “Standardwerk” Experimental Philosophy von Joshua Knobe und Shaun Nichols beispielsweise erschien im Jahr 2008.
Mir jedenfalls – und das mag mich als Banausen disqualifizieren – war die Existenz eines experimentellen Zweigs der Philosophie bisher unbekannt. Ob sie bei den “klassischen” Philosophen – die offenbar von den Experimentierern als “Sesselphilosophen” (Armchair Philosophers) bezeichnet werden – sehr gut ankommt, muss sich wohl erst noch zeigen. Wenn ich auf dem X-Phi-Blog zum Beispiel lese, dass im experimentell beobachtet wurde, dass das moralische Urteilsvermögen professioneller Philosophen nicht wesentlich ( wenn überhaupt) konsistenter ist als das philosophischer Laien, dann wird das sicher einige der Gedankenprofis ärgern.
Dass durch die Einführung empirischer Methoden aus der Philosophie eine “harte” Wissenschaft wie Physik oder Chemie wird, ist sicher nicht anzunehmen. Aber dass Diskussionen mit Philosophen in Zukunft anders verlaufen können, wenn sie auf die Frage “und wie kannst Du das belegen” nicht mit Konzepten und Semantik antworten, sondern mit Zahlen und Graphen, empfände ich in jedem Fall als eine Bereicherung.
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