Übergewicht ist ein Gesundheitsrisiko, und zwar unabhängig davon, welchen kulturellen Stellenwert Korpulenz historisch oder geographisch gesehen einnimt. Insofern ist es also zu begrüßen, wenn sich die Einsicht, dass es ein gesundes – und vergleichsweise niedriges – Verhältnis zwischen Körpergewicht und -Größe (ausgedrückt beispielsweise im Körpermassenindex oder Body Mass Index) gibt, auch global durchsetzt, wie ein neues Paper über Body Norms and Fat Stigma in Global Perspective beschreibt, das in der nächsten Ausgabe von Current Anthropology erscheinen wird. Denn in vielen Kulturen – ich greife jetzt mal als augenfälligstes Beispiel die Polynesier heraus, aber Ähnliches dürfte auch auf den Mittelmeerraum oder auch in Lateinamerika (kein Ansprch auf Vollständigkeit hier) zutreffen – galt körperliche Üppigkeit als ein sichtbarer Ausdruck von Erfolg und damit als als schön.
Zum Problem wird es, in meinen Augen, allerdings, wenn wir nicht nur das Gesundheitsbewusstsein, sondern auch das damit verbundene Stigma exportieren. Dass dies geschieht, wird in dem Paper ebenso belegt, aber ehe ich dazu ein paar (mangels Verfügbarkeit des Papers leider magere, letzteres ohne Wortspielabsicht) Details verrate, muss ich vielleicht erst mal erklären, warum ich es als ein Problem – und ein solches ist ein Stigma nun mal – ansehe, wenn Übergewicht sozial geächtet wird. Denn schließlich muss ja nicht nur der oder die “Dicke” darunter leiden – allein die volkswirtschaftlichen Kosten der Fettsucht werden in den USA (beispielsweise) mit 215 Milliarden Dollar jährlich beziffert. Übergewicht verursacht Herzkreislauf-Erkrankungen, ruiniert Knochen und Gelenke und erhöht das generelle Krebsrisiko. Global gesehen hat Übergewicht mehr Menschenleben verkürzt als jede andere Todesursache. Und schlimmer noch: Übergewichtigkeit, mit all ihren bekannten Negativwirkungen, wird zur “Seuche” bei Kindern und Jugendlichen. Das verdient doch, öffentlich gegeißelt zu werden, nicht wahr?
Aber niemand leidet mehr unter dem Übergewicht als die übergewichtige Person selbst. Leiden ist hier physisch und psychisch gemeint. Niemand ist gerne der oder die “Dicke”, niemand findet es toll, nach wenigen Schritten außer Atem oder zu vielen körperlichen Aktivitäten generell kaum noch fähig zu sein. Niemand ist (wenn er/sie ehrlich ist) gerne dick. Aber Gewichtsreduktion ist eben nicht nur eine Frage der Disziplin, der Selbstbeherrschung, oder des Charakters. Fettleibigkeit ist bei einem Großteil der Betroffenen auch eine Folge der genetischen Veranlagung. Ob Fettsucht eine “echte” Krankheit ist oder nicht, darüber debattieren noch die Experten. Darüber, dass Stigmatisierung bei keiner Krankheit zu einer Verbesserung führt, streiten sie aber wahrscheinlich nicht. Übergewichtige brauchen Behandlung, besser noch: Vorsorge – aber bestimmt keine Vorurteile. (Nur der Transparenz wegen: Mein BMI liegt unter 25, also im normalgewichtigen Bereich.)
Aber nun zum exportierten Stigma – denn ohne einen Beleg desselben ergäbe dieses gesamte Posting keinen Sinn. In ihrer Arbeit fanden Alexandra Brewis, Isa Rodriguez-Soto, Amber Wutich und Ashlan Faletta-Cowden (alle von der Arizona State University) nicht nur heraus, dass sich mit der Verbreitung des westlichen Schlankheitsideals (das, ganz nebenbei gesagt, auch nicht ohne gesundheitliche Nachteile ist; Stichwort: Essstörung) nicht nur die Vorurteile gegen Übergewichtige globalisiert haben – sind sind am stärksten ausgerechnet in jenen Kulturen ausgeprägt, die bisher eher der Üppigkeit als Ideal zugeneigt waren: Lateinamerika, zum Beispiel, und ganz besonders Amerikanisch-Samoa.
When I was doing research in the Samoas in the 1990s, we found people starting to take on thinner body ideals, but they didn’t yet have discrediting ideas about large bodies. But that appears to be changing very quickly
erklärt Alexandra Brewis. Den Mechanismus dieser Adaption haben die Forscherinnen zware nicht untersucht, aber dass er mit der Verfügbarkeit westlicher Medien und dem dort kolportierten Schönheitsideal (inklusive der Vorurteile gegen fette Menschen) zusammenhängen dürfte, ist auch ohne komplexe Analyse plausibel. Brewers Kollegin Amber Wutich hat zudem beobachtet, dass vor allem die zuletzt “Bekehrten” die radikalsten Kritiker sind:
People from sites that have adopted fat-negative attitudes more recently seem to be more strident. The late adopters were more likely to agree with the most judgmental statements like “fat people are lazy”.
Wenn tatsächlich, wie die Forscherinnen sagen (ich hab’s nicht unabhängig verizfiziert) mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung schon übergewichtig ist, dann mag man zwar denken, dass dieses Stigma vielleicht ein notwendiges Korrektiv ist. Aber letztlich ist es nur noch ein weiteres Problem, das zu denen der Übergewichtigkeit addiert werden muss. Wer glaubt, dass es irgendwo helfen könnte, Dicke gesellschaftlich zu ächten, der kann dann sicher auch die Frage beantworten, warum dies im Westen – das gilt besonders für die USA, aber auch für Europa und Deutschland – dann nichts geholfen hat. Und warum man es dann trotzdem exportieren muss …
Abbildungen:
- Peter Paul Rubens: Die Toilette der Venus, Fürstlich Lichtensteinische Gemäldegalerie Vaduz, via Wikimedia Commons
- Didier Vidal, via Wikimedia Commons
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