Vor einigen Tagen saß ich mal wieder in einem Symposium des Massachusetts Institute of Technology, in dem es unter anderem um die transformatorischen Effekte von Computern in der Biologie ging. Leider konnte ich nur kurz reinhören (drum schreibe ich auch nichts weiter darüber), aber ein Moment blieb mir doch im Gedächtnis: Im Laufe seiner Vortrages, in dem Eric S. Lander anschaulich schilderte, mit welchem Tempo – und welcher Tiefe – sich die Genforschung dank der Fortschritte in der Computertechnik entwickeln konnte, kam er darauf zu sprechen, dass er noch heute ein schlechtes Gewissen hat, weil er Generationen von Studenten beigebracht hatte, dass das menschliche Genom aus etwa 100.000 Genen bestehe. Bis das Humangenomprojekt ab etwa dem Jahr 2000 dann wirklich erlaubte, die Gene nachzuzählen, war dies auch der Stand der Wissenschaft – obwohl es, wie wir heute wissen, nur gerade mal 21.000 Gene sind, die unser Menschsein steuern. Daran musste ich gestern wieder denken, als ich lernen musste, dass es eben nicht die Kreiselstabilität ist, die Fahrräder vor dem Umkippen bewahrt – und dass ich genau das meinem Sohn erst kurz davor ausführlich als Antwort auf seine Frage erzählt hatte.
Sind das nun Beispiele dafür, dass Wissenschaft manchmal (oft?) eben auch nichts weiß – wie es hier in manchen Kommentaren, vor allem zum Thema evidenzbasierte Medizin vs. Alternativheilmethoden, gerne ins Feld geführt wird? Wenn Wissenschaft ganz lange ganz sicher sein kann und dann doch den Irrtum zugeben muss – kann man ihr dann überhaput noch vertrauen?
Ja. Absolut. Denn das Schlüsselwort ist “zugeben”. Fehler werden unweigerlich erkannt, und die fehlerhafte – oder unvollständige – Lehre korrigiert beziehungsweise ergänzt. Klassischstes aller Beispiele ist Newtons Mechanik, die durch die Relativitätslehre korrigiert wurde. Und was geschieht, wenn eine künftige (oder vielleicht schon eine gerade aktive – wer weiß?) Forschergeneration mit einer Theorie kommt, die Einsteins Relativitätslehre ebenso überholt erscheinen lässt wie jene einst Newtons Mechanik? Dann wird sie diese ablösen, und der Stand der Wissenschaft entsprechend aktualisiert.
Auch wenn’s wie ein Mantra hier immer wieder vorgetragen wird (und – hoffentlich – für die Mehrzahl der Leser eine nach Athen getragene Eule ist): Der Zweifel ist das Leitmotiv der Wissenschaft. Selbst die plausibelste aller Erklärungen (der Kreiseleffekt beim Fahrrad hatte schon etwas enorm Überzeugendes) wird früher oder später noch einmal auf den Prüfstand geschickt. Und generell ist jedes Resultat immer nur so lange gültig, bis es durch ein besseres abgelöst wird. Was nicht heißt, dass Wissenschaft keine Fakten kennt. Wenn etwas oft genug überprüft und immer wieder bestätigt wurde, wenn es sowohl in der Theorie als auch in der Praxis konsistent Erwartung und Beobachtung/Messung in Einklang bringt – dann gilt etwas schon als “Fakt”. Aber nicht als unumstößlich oder gar heilig (und schon gar nicht als zu heilig und unumstößlich, um nicht doch ab und zu mal wieder hinterfragt zu werden).
Aber wie schon Newton und Einstein zeigen: Beide müssen erklären, warum der Apfel immer nach unten fällt. Sooo beliebig, dass eine neue “Theorie” nun alle Äpfel nach oben entschwinden lassen kann, ist Wissenschaft nicht. Und nur, weil eine Theorie durch eine bessere abgelöst werden kann, heißt das noch lange nicht, dass auch alle Beobachtungen unter der alten Theorie falsch waren. Zauberei (auch die heilende Form, die oft in Form von Röhrchen und Pastillchen angepriesen wird) kann durch keine noch so revolutionäre wissenschaftliche Erkenntnis zur greifbare Realität umgemünzt werden – sie widerspricht der Wissenschaft ja nicht im feinen Detail des Formelwerks, sondern in ihren Grundprinzipien. Und die ändern sich nicht. Hamlets Freund Horatio mag sich ja allerlei Dinge zwischen Himmel und Erde erträumen (ein beliebtes “Wissenschaft-weiß-auch-nicht-alles”-Zitat), aber wenn er bei dieser Träumerei ins Stolpern kommt, wird er immer noch zu Boden fallen und nicht, plötzlich schwerelos, in die Luft entschweben.
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