Für eine profunde Analyse der Konsequenzen aus dem Tod des al-Qaida-Anführers Osama bin-Laden fehlt mir zu allererst mal das Detailwissen (das zu diesem Zeitpunkt, also ein paar Minuten nach Obamas Verkündung, dass US-Einheiten bin-Laden in einem Feuergefecht in Pakistan getötet haben, noch nicht verfügbar ist) und natürlich auch die politologische Tiefe. Aber ich wollte nur mal, falls es nicht sowieso von anderen und kompetenteren Stimmen zu hören/lesen ist, vor zu viel Euphorie warnen: Bin-Ladens Tod ist sicher nur wenig mehr als eine symbolische Geste. Eine wichtige Geste für Barack Obama, ohne Zweifel. Aber wie in diesem hier als pdf verlinkten Bericht
von Bruce Hoffman (Georgetown University) für das US-Abgeordnetenhaus (vermutlich 2007, leider finde ich im Bericht selbst das Datum nicht) schon erklärte: Die Strukturen von al-Kaida funktionieren schon längst auch ohne die alten Köpfe. Im Gegenteil: Manchmal ist ein toter Anführer, eine tote Symbolfiur ein besserer Motivator als ein lebender. (Erinnert sich jemand noch an die Sandinistas in Nicaragua?)
Hier nun – nachträglich – der Videoclip von Obamas Erklärung:
Aber für den Fall, dass jemand vergessen hat, dass es sich bei al-Kaida – ganz entgegen dem oft vermittelten Anschein – nur bedingt um eine fanatisch-religiöse Organisation handelte, sondern dass sie viel konkretere, säkulare Ziele hatte (und auch ihre Selbstmordattentäter vor allem im Hinblick auf Effizienz und weniger auf religiös-ideologische “Reinheit” hin ausgebildet hat), veröffentliche ich hier mal die ungekürzte Abschrift eines Interviews, das ich mit dem Terrorismusexperten Robert Pape von der University of Chicago geführt hatte und das im November 2003 in FOCUS erschienen war und in dem es primär um die Natur von Selbstmordattentaten und -Attentäter ging:
Professor Pape, sind Selbstmordattentate eine Spezialität islamischer Terroristen?
Das wird allgemein angenommen, und nach den Anschlägen in Israel und vor allem denen vom 11. September, die von islamischen Fundamentalisten verübt wurden, ist das auch begreiflich. Aber ich habe für die American Political Science Review mal die Jahre zwischen 1980 und 2001 genauer untersucht, und die meisten Selbstmordattentate in dieser Zeit wurden von der LTTE, besser bekannt als Tamil-Tiger, in Sri Lanka verübt – einer marxistisch-leninistischen Gruppe, die Religion ablehnt und von einer hinduistischen Bevölkerung getragen wird. Auf deren Konto gingen 75 der insgesamt 188 Selbstmordattentate.
Aber die jüngsten Anschläge auf zwei Synagogen in Istanbul, hinter denen vermutlich Al-Kaida steckt, scheinen dieser Theorie doch zu widersprechen?
Nein. Denn Al-Kaida hat seit April 2002 gezielt die verbünden Amerikas bei der Besetzung Afghanistans attackiert – alle sieben Selbstmordanschläge der Al-Kaida zwischen April und Oktober 2002 richten sich gegen Franzosen, Deutsche, Australier oder Briten als Vergeltung, wie Bin Laden ausdücklich erklärte, für ihre Rolle als Besatzungshelfer. Im August kam Irak dazu; vergessen Sie nicht, dass die Türkei die Entsendung von 10.000 Besatzungssoldaten in den Irak beschlossen hat, eine Entscheidung, die bisher nur wegen der fehlenden Zustimmung des Regierungsrats nicht ausgeführt wurde. In der Erklärung, mit der eine Gruppe die Verantwortung für die Attentate in Istanbul übernimmt, wird ausdrücklich erklärt, dass es vor allem darum ging, die Türkei dafür zu bestrafen, dass sie sich bei der Besetzung des Irak an die Seite der USA gestellt hat.
Während palästinensische Selbstmordattentäter sich belebte Plätze, Buslinien oder andere Menschenansammlungen zum Ziel nehmen, scheint Al-Kaida ihre Ziele vor allem auch nach ihrem symbolischen Wert auszuwählen – Synagogen, Botschaften, das World Trade Center.
Al-Kaida sucht ihre Ziele nicht einfach nach ihrem Symbolcharakter aus – es geht in erster Linie darum, eine möglichst große Zahl der unschuldiger Opfer zu finden. Die IRA hatte in den 80-er Jahren meistens symbolische Anschläge verübt – oft erhielt die Polizei zehn Minuten, bevor die Bombe hochgehen sollte, einen entsprechenden Tipp. Genug Zeit, um das Zielgebäude zu evakuieren, aber nicht genug, um die Explosion zu verhindern. Das ist nicht der Stil der Al-Kaida, die typischer Weise wochen- und monatlang plant, um die Zahl ihrer Opfer zu maximieren. Und deswegen sind die Al-Kaida-Anschläge auch die tödlichsten der Geschichte.
In ihrem Artikel für die American Political Science Review stellen Sie fest, dass die Zahl der Selbstmordattentate seit 1980 stetig wuchs, während Terroraktionen insgesamt zurückgingen. Wie passt das zusammen?
Terroristische Aktivität generell hatte ihren Höhepunkt im Jahr 1988, als weltweit 666 Anschläge verübt wurden, im Vergleich zu 340 im Jahr 2001. Aber was uns dabei entgangen war – und das erklärt auch, warum uns der 11. September so unvorbereitet getroffen hat – ist die Tatsache, dass Selbstmordattentate in dieser Zeit enorm angestiegen sind. Sie machen zwar immer noch nur drei Prozent aller Terroraktivitäten aus, aber sie sind von durchschnittlich drei pro Jahr in den frühen 80-ern auf zehn jährlich in den 90-ern bis auf mehr als 25 pro Jahr in 2001 gestiegen.
Woran liegt das? Haben die alten Terroristen nur ihre Taktiken geändert – oder sind hier völlig neue Gruppierungen am Werk?
Selbstmordbrigaden sind ganz anders als “normale” Terrororganisationen. Ich hatte auch erst geglaubt, dass sie so etwas Ähnliches wie die Baader-Meinhof-Gruppe sein müssten – eine kleine Zelle von vielleicht ein bis zwei Dutzend Leuten. Aber es zeigt sich, dass Selbstmordgruppen – von Hamas über Hisbollah bis hin zu den Tamil-Tigern – aus Hunderten und Tausenden von Guerillakämpfern bestehen. Es sind tatsächlich Guerilla-Organisationen, die für ein säkulares, nationalistisches Ziel kämpfen. Das Ziel ist immer, einen demokratischen Staat, der über Militär verfügt, zum Abzug aus einem Gebiet zu zwingen, dass diese Gruppen als ihr Heimatland ansehen.
All diese Organisationen haben also als Guerillagruppen begonnen?
Ja, aber als diese Taktik versagt hat, haben sie sich auf Selbstmord-Taktiken verlegt. Ein wichtiger Grund dafür war, dass es Demokratien in den vergangenen zwei Jahrzehnten sehr schwer gefallen ist, mit diesen Selbstmord-Terroristen fertig zu werden. Schon Ronald Reagan hatte auf die Anschläge im Libanon erst mit massiven Militäreinsätzen reagiert, doch dann musste er feststellen, das er das Problem damit nicht stemmen konnte, sondern nur mehr Selbstmordattentäter motivierte. Und dann wurden Zugeständnisse gemacht – zum Beispiel der Abzug der Amerikaner und Franzosen aus dem Libanon 1984, oder der beschleunigte Rückzug der Israelis aus dem Gazastreifen und der West Bank 1994/95. Und das hat den Selbstmordbombern gezeigt, dass sie mit ihrer Taktik Resultate erzielen können. Sie haben gesehen, dass sie sich lohnt.
Sich lohnt, weil man sonst nicht viel zu verlieren hat? Es scheint ja, dass Selbstmord-Attentäter immer nur aus den benachteiligten Regionen und Bevölkerungsgruppen der Welt stammen.
Armut wird oft als die Wurzel des Terrorismus angeführt. Aber es ist zwar richtig, dass die Länder, aus denen Selbstmordattentäter stammen, meist längst nicht so reich sind wie die Vereinigten Staaten – aber sie sind auch längst nicht die ärmsten Länder der Welt. Es gibt sehr viele Staaten in Afrika, die wesentlich ärmer sind als beispielsweise der Libanon, und doch bringen sie keine Selbstmord-Attentäter hervor. Aber alle Selbstmord-Organisationen haben eines gemeinsam: Ihr Gegner ist immer eine demokratische Besatzungsmacht.
Vielleicht ist das ja nur ein Zufall?
Es ist wirklich verblüffend, aber das Ziel jeder modernen Selbstmordkampagne war eine Demokratie: USA, Frankreich, Israel. Und selbst Sri Lanka, die Türkei und Russland wurden erst zum Ziel solcher Anschläge, nachdem sie demokratisch wurden, nicht vorher. Die kurdische PKK ist ein deutliches Beispiel: Sie hat Selbstmordanschläge gegen die Türkei eingesetzt, die nur, sagen wir mal, “mäßig brutal” gegen die Kurden vorgegangen ist. Aber niemals haben die Kurden Selbstmordanschläge gegen Saddam Hussein eingesetzt, obwohl er viel übler mit den Kurden in seinem Land vorgegangen war. Sie sind, wie gesagt, ein strategisches Element im Kampf gegen eine demokratische Besatzungsmacht.
Wie wichtig ist es dabei, dass der “Kämpfer” stirbt? Teilnehmer an militärischen Himmelfahrtskommandos haben ja immer noch die Hoffnung, lebend durchzukommen, aber ein Selbstmordbomber, der sich ein paar Kilo Sprengstoff um die Brust schnallt, kann doch bestenfalls hoffen, dass er schnell stirbt.
Nein, seine größte Hoffnung ist, dass er maximalen Schaden mit größtmöglicher Zuverlässigkeit anrichtet. Per Fernsteuerung hätten die Attentäter vom 11. September die Flugzeuge halt nicht ins World Trade Center und ins Pentagon lenken können. Das haben sie von Japans Kamikaze-Fliegern gelernt, die eine fünf Mal größere Trefferquote hatten als normale Bombenabwürfe. Auch die Anführer der Selbstmordbrigaden weisen immer wieder auf die größere Effizienz der Selbstmordanschläge hin. Das ist auch belegbar: Ein normaler Terroranschlag forderte im Durchschnitt der vergangenen zwei Jahrzehnte ein Todesopfer; aber ein Selbstmord-Attentat kostete im Schnitt dreizehn Menschenleben, und dabei sind die Anschläge vom 11. September gar nicht eingerechnet. Den Attentätern kommt es nicht darauf an, zu sterben – sie wollen ihre Mission erfüllen, nur das zählt.
Aber das Versprechen, ein Märtyrer zu werden, ist doch ein wesentliches Element bei der Rekrutierung?
Ich habe die Rekrutierungen mal genauer unter die Lupe genommen und dabei überrascht feststellen müssen, wie dünn dieses Element ist. Nehmen wir mal Al-Kaida als Beispiel, weil da wissen wir Einiges durch die Vernehmungen von Leuten, die Bin Ladens Trainingscamp in Afghanistan absolviert hatten. Wir wissen mit großer Sicherheit, dass die Ausbildung dort zwei Monate gedauert hat, von denen aber nur zwei Wochen für religiöse Unterweisung verwendet wurden. Und die diente weniger zur Vorbereitung auf den Märtyrertod, sondern vor allem dazu, ihnen zu erklären, warum sie Unschuldige töten dürften, was im Islam streng verboten ist. Das alles ist aber keine massive Gehirnwäsche, sondern nur eine dünnes religiöses Mäntelchen für strategische Missionen gegen demokratische Besatzer, im Fall der Al-Kaida waren dies die US-Truppen auf der arabischen Halbinsel.
Und damit kann man Leute freiwillig in den Tod schicken?
Betrachten Sie’s mal so: Aus Umfragen wissen wir, dass 95 Prozent der saudiarabischen Bevölkerung zwar nicht mit den Methoden, aber mit den Zielen von Bin Ladens Al-Kaida einverstanden ist. Und da ist es nicht mehr so überraschend, wenn ein paar Handvoll aus dieser Bevölkerung so sehr von diesem Ziel erfüllt sind, dass sie dafür ihr Leben in einem Selbstmordanschlag geben würden.
Aus unserer Sicht scheint dies immer noch völlig irrational. In westlichen Medien werden die Attentäter stets als verrückt oder irrsinnig bezeichnet. Ist es ein Irrsinn mit Methode?
Unter den 188 Selbstmordanschlägen, die ich untersucht habe, gab es vielleicht neun, die man als irrationales Handeln eines Einzeltäters bezeichnen könnte. Es ist doch bezeichnend, dass die Terrororganisationen in der Lage sind, die Selbstmordaktionen nach Belieben an- und abzuschalten. Wenn die Hamas Anschläge als Vergeltung gegen Israel ankündigt, dann geschehen sie auch. Und wenn die Hamas eine dreimonatige Pause ankündigt, dann stoppen sie. Und das ist nur möglich, weil es eben ein sehr starkes Element von Rationalität in diesem Selbstmordaktionen gibt.
Das klingt ja fast so, als ob Selbstmordanschläge ein modernes, aufgeklärtes Phänomen wären?
Es gibt zwar ein paar historische Beispiele, wie etwa die Assassinen des 11. Jahrhunderts oder die Anarchisten des 19. Jahrhunderts. Aber das waren immer nur Einzelfälle, nie Hunderte oder gar Tausende. Selbst in den 50-er und 60-er Jahren, im Vietnamkrieg oder in Algerien, gab es dieses Phänomen noch nicht – obwohl Algerien doch islamisch ist. Ich habe eine ganze Reihe von Assistenten auf die Recherche angesetzt, aber bis zu den Anschlägen im Libanon Anfang der 80-er Jahre finden wir nichts. Selbstmordattentate sind also in der Tat ein modernes Phänomen, und zwar eines, das ansteckend ist, weil sich damit Erfolge erzielen ließen.
Und was können moderne Gesellschaften dagegen tun?
Das ist nicht leicht zu beantworten. Denn Eroberung und Besetzung bringen nur mehr potenzielle Selbstmordattentäter hervor – Rückzug und Aufgabe dagegen werden die Selbstmordattentäter nur weiter ermutigen, weil sie ja Erfolge erzielt haben.
Das bedeutet doch, dass der “Kampf gegen den Terror”, als den der Krieg gegen den Irak bezeichnet wurde, diesen Terror nur verschlimmern kann?
Ich fürchte, dass die Entwicklung im Irak meine Theorie am deutlichsten belegt. Zwischen 1980 und 2002 gab es weltweit 16 Selbstmord-Terrorkampagnen, und alle 16 standen im Zusammenhang mit Besetzung durch ein demokratisches Land – statistisch geht dies weit über jeden Zufall hinaus. Und die US-Besatzung im Irak hat nun die 17. Kampagne hervor gebracht. Denn bis zu diesem Jahr hatte es im Irak nie einen Selbstmordanschlag gegeben, doch seit dem August wurden bereits mehr als ein Dutzend solcher Anschläge verübt, die sich alle gegen ausländische Besatzungsmächte oder kollaborierende Iraker richteten. Die Gründe sind klar: Erstens haben wir, eine Demokratie, das Land besetzt. Und zweitens versuchen wir, diese Gesellschaft nach unseren Vorstellungen umzuformen und sicher zu stellen, dass keine islamische Fundamentalisten an die Macht kommen. Aber das ist Staatenbildung nach unseren Vorstellungen, nicht nach den Wünschen der Einheimischen. Genau diese Konstellation ist es, die neue Selbstmordattentäter hervor bringt, und die Anfänge dieser Entwicklung haben wir ja schon gesehen.
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