Herzlich Willkommen! (Dieser Gruß gilt auch für all jene, die als Folge der Reizwörter in der Überschrift hier nun trollmäßig aufschlagen werden.) Dies ist im Kern ein Thema, das ich schon mehr als einmal (hier und hier, um genau zu sein) angeschnitten hatte; da aber erstens in einem Blogbeitrag über explodierende Wassermelonen – von denen übrigens keine ernsthafte Gefahr für umstehende Personen auszugehen scheint – ausgerechnet die Radhelm-Diskussion wieder losgetreten wurde und ich zweitens diese Diskussion sowieso mit meinem elfjährigen Sohn immer wieder mal führen muss, erlaube ich mir mal wieder, meine Ansichten hierzu zu thematisieren. Und ja, wie in der Überschrift angedeutet, halte ich es für müßig, hier mit dem ansonsten in einer wissenschaftsbasierten Diskussion stets willkommenen Argument der “Studie” zu kommen.
Und das ist nicht etwa eine Kritik an den Methoden der Wissenschaft – die sind so gut, wie sie sein können. Aber was selbst die beste Studie nicht leisten kann ist zu bestimmen, was besser ist – Äpfel oder Birnen? Denn darauf läuft die Argumentation über Vorsorgemaßnahmen, seien es Darm-, Brust- oder Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchungen, seien es Radhelme, oder seien es (auch diese Diskussion wird in den USA ja derzeit heftig geführt) Krankenversicherungen. Die Äpfel sind dabei, was aus der Sicht des Kollektivs “sinnvoll” erscheint – doch die Birne ist jene, die jedes Individuum auf seinen Schultern trägt. Ich erklär’s gleich …
Fangen wir mit der Krankenversicherung an. Die ist ja, wenn man es aus der Warte einer Volkswirtschaft betrachtet, pure Geldverschwendung. Dazu braucht man gar keine komplizierten Rechnungen oder Studien, sondern es genügt eine simple logische Betrachtung: Die Gesamtleistung = der Gesamtnutzen der Versicherten (wenn man so will) aller Krankenversicherungen ist ja identisch mit den Gesamt-Behandlungskosten (für die Spitzfindigen: Ich rede nur von Krankenversicherung, nicht von Krankentagegeldversicherungen). So weit, so gut. Die Gesamtkosten der Krankenversicherung sind jedoch all diese Behandlungskosten zuzüglich der Kosten, die durch und für die Versicherung selbst anfallen: Personalkosten, Betriebskosten, Gebäude, Gewinne etc. Und selbst bei einer reinen nonprofit-Versicherung mit minimalstem Personal- und Werbeaufwand wären diese Kosten dennoch in jedem Fall immer höher als der Nutzen. Ergo ließe sich argumentieren: Die Versicherten könnten eine Menge Geld sparen, wenn sie die Behandlungen aus eigener Tasche bezahlen.
Diese private Spar-Vorsorge ist ja eines der Steckenpferde des Möchtegern-US-Präsidenten Newt Gingrich, und im ersten Moment klingt sie ja auch ganz berückend: Warum sein Geld einem fremden Unternehmer unwiederbringlich in den Rachen werfen, nur um für den – vielleicht nie eintretenden – Fall abgesichert zu sein, wenn man statt dessen all die schöne Kohle in sein eigenes und zudem steuerbegünstigtes Sparkonto stecken kann? (Ein kleiner Hinweis, was hier der Haken ist: Die Rechnung geht nur auf, wenn man erst im hohen Alter, also nach ausreichend langer Ansparzeit krank wird …)
Natürlich läuft hier eine Nachtigall in so schwer genagelten Bergstiefeln durch dieses Argument, dass man sie selbst bei flüchtigem Interesse noch laut trapsen hört: Jeder weiß, dass Behandlungen – es genügt ein Beinbruch, von Krebstherapien und Organtransplantationen mal gar nicht zu reden – sehr schnell die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des einzelnen Patienten überschreiten können. Und im Gegensatz zum, sagen wir mal, Wohnraumbedarf oder den Nahrungsmitteln (die ja auch elementare Funktionen der Daseinsvorsorge sind) lässt sich der Kostenaufwand für die Krankenversorgung nicht wirklich für jeden Einzelnen vorausschätzen. Exakt diese Unwägbarkeit des einzelnen Risikos und der daraus für den Einzelnen resultierenden Kosten waren ja der Motivator, überhaupt erst diese Solidargemeinschaften zu bilden.
Aber was hat das mit Vorsorgeuntersuchungen, oder besser noch: mit Radhelmen zu tun? Nun, beides sind vorbeugende Maßnahmen, deren “kollektiver Nutzen” in Studien oft als gering angesehen wird – zu gering, um den betriebenen Aufwand zu rechtfertigen: Für Vorsorgeuntersuchungen verweise ich auf die in meinen eingangs verlinkten Postings erwähnten Beobachtungen, dass regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen im Endeffekt nur wenig am generellen Risiko ändern, an Brust-, Darm- oder Prostatakrebs zu sterben und andererseits nicht nur Kosten für die Vorsorgetests selbst verursachen, sondern auch für die Behandlung/Betreuung so genannter “false positives”. Bei Radhelmen kommt offenbar auf jede Studie, die deren vorbeugende Wirkung bestätigt, eine Analyse, die das genaue Gegenteil belegt. Aber beiden Sichtweisen haftet der Mangel an, dass sie nur Aussagen für das Aggregat – alle Radfahrer, alle Männer, alle Frauen, alle Menschen etc. – machen können (ist nun mal so bei aggregierenden Studien, die auf der statistischen Auswertung möglichst großer Datensätze beruhen).
Doch wie beim Krankenversicherungsbeispiel ist nicht entscheidend, wie die kollektive (gesellschaftliche) Kosten-Nutzen-Rechnung aussieht: Der entscheidende und überzeugende Nutzen kann nur der sein, den das Individuum – das ja den Helm tragen muss/zur Vorsorgeuntersuchung gehen muss – gegen seine individuellen Kosten aufwiegt.
Und hier täuscht man sich, wenn man beispielsweise die Risikoverteilung des Aggregats auf das Individuum herunter rechnen will, i.e. die Studie (oder wasauchimmer) als konkrete Handlungsvorgabe interpretiert. Um es am Beispiel Krebs noch einmal zu erläutern: Eine Gesellschaft kann zu, sagen wir mal, fünf Prozent an Krebs erkanken – das Individuum jedoch immer nur zu 100 Prozent oder gar nicht. “Ein bisschen Krebs” gibt es ebenso wenig wie “ein bisschen tot sein”. Und wenn sich meine Schädelknochen mit zu großer Geschwindigkeit dem Asphalt annähern, hilft es ihnen wenig, dass dieser (Un-)Fall rein statistisch eher eine Ausnahme ist. Das ist schon mal ein Problem bei der Gleichsetzung von Risiken mit dem dann später eventuell eintretenden konkreten Fall.
Und zweitens kommt es auch sehr stark darauf an, auf welche Grundgesamtheit man das Risiko umrechnet. Bleiben wir bei den Fahrradhelmen und nehmen eine österreichische Studie, die ich auf die Schnelle mal ergoogelt habe: Demnach wurden zwischen 2004 und 2009 insgesamt 28.400 Personen beim Radfahren verletzt, davon 25 Prozent am Kopf (bei Kindern unter 15 Jahren lag das Risiko von Kopfverletzungen deutlich höher, nämlich bei 40 Prozent.) 16 Prozent der am Kopf Verletzten hatten einen Helm getragen. Jetzt spielen wir mal ein bisschen mit den Zahlen:
Auf die Gesamtbevölkerung gerechnet ergibt dies in diesen fünf Jahren 338 Verletzte pro 100.000 Einwohner, davon ein Viertel, also (aufgerundet) 86 am Kopf Verletzte. Von diesen 86 Kopfverletzten hatten 14 sowieso schon einen Helm, getragen; wenn man diese “Schutzquote” von 84 Prozent zu Grunde legt, dann wären von den verbleibenden 72 Opfern durch eine Helmpflicht auch nur 61 vor Kopfverletzungen bewahrt worden. Und wenn man nun noch das Ausmaß berücksichtigt, in dem vor allem Kinder diese Kopfverletzungen erleiden, dann würde eine allgemeine Helmpflicht – wenn man so rechnet – gerade mal 5 Erwachsene pro 100.000 Einwohner und Jahr vor einer Verletzungen am Kopf schützen. Klingt unerheblich, wenn man bedenkt, dass allein in Österreich (ich bleib’ der Einfachheit halber bei diesem Beispiel) im Jahr 2006 rund 10.000 Unfälle je 100.000 Einwohner passierten. Und auch bei Radfahrern selbst ist ja, wie schon gesagt, nicht nur der Kopf gefährdet – 75 Prozent aller Verletzungen betreffen andere Körperteile. Natürlich sieht das Argument anders aus, wenn ich aus den gleichen Zahlen hochrechnen würde, dass ein Helm bei Kindern unter zehn Jahren mehr als 300 schwere Kopfverletzungen in den fünf Untersuchungsjahren hätte verhindern können …
Die Äpfel sind also ein rein statistisches, volkswirtschaftliches Risiko – das aus politischer Sicht gewiss relevant sein kann. Aber die Birne, der eigene Schädel, sollte einer anderen Risikobetrachtung unterworfen sein: Wie groß ist der Aufwand, und welches maximale Risiko welchen maximalen Schaden erspart er mir? Das muss jeder sowieso für sich abwägen, ebenso wie beim Aufwand und Nutzen von Vorsorgeuntersuchungen. Und nicht jeder hat hier gleiche Maßstäbe: Die Freiheit ohne Helm zu radeln, oder keine Artzpraxis, kein Labor von innen sehen zu müssen, ist dem einen nichts, dem anderen ein ganzes Leben wert. Diese Entscheidung nimmt uns keine Studie, keine Wissenschaft ab. Denn sie ist eine individuelle – eine “anekdotische” wenn man so will.
Ich jedenfalls hab’ nächste Woche einen Vorsorgetermin, und wenn nachher mein Sohn aus der Schule kommt, setzen wir uns die Helme auf und radeln durch den Park. Auch ohne Helmpflicht, sondern einfach deshalb, weil mir ein unverbeulter Kopf beinahe jede Mühe wert ist.
Foto: Fremont Solstice Parade (nackte, grün angemalte Frau mit Fahrradhelm auf einem Fahrrad), von Steve Andersen, Seattle, WA, USA, via Wikimedia Commons
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