Das Fragezeichen habe ich sehr bewusst gesetzt, da es sich um ein sehr ambivalentes Thema handelt: Gut gemeinte und konzipierte Entwicklungsprojekte, die aber an den Realitäten scheitern und eventuell sogar einen Rückschritt in der zu fördernden Region zur Folge haben. Letzteres ist sicher das größte Fragezeichen, aber für ersteres fallen mir aus meiner Studienzeitgleich zwei Beispiele (leider nur aus dem Gedächtnis, aber ich verbürge mich dafür, dass sie mir in dieser Form erzählt wurden). Aber ehe ich darauf komme, verrate ich noch den aktuellen Anlass,warum ich hier schreibe: Die Harvard Business Review hatte im vergangenen Sommer mit einem Blogpost von Christian Sarkar auf ihrer Website einen Ideenwettbewerb für ein 300-Dollar-Fertighaus angestoßen, mit dem das Problem der Obdachlosigkeit beziehungsweise der unzumutbaren Slumbehausungen in der Dritten Welt gelöst werden sollte; die Ergebnisse des Wettbewerbs sollen am 10. Juni bekannt gegeben werden.
Die Idee an sich klingt gut: Das Fertighaus soll aus einem Raum bestehen und mit Solarzellen, einen Tablet-Computer und Wasserfiltern ausgestattet sein. Ein Raum ist zwar sehr wenig, doch angesichts der sowieso beengten Wohnverhältnisse sowie der Tatsache, dass diese Häuser vermutlich auf “besetzten” Parzellen (die meisten Slums entstehen auf Land, dessen Besitzrechte im besten Fall ungeklärt sind) stehen werden und daher ihre Platzansprüche minimal halten müssen, scheint dieser Kompromiss vertretbar. Und 300 Dollar klingt erst mal nach einem Aufwand, der auch in der Dritten Welt noch als finanzierbar erscheint (wenn man hier schon Laptops für 100 Dollar als angemessen einschätzt …)
Nun erst mal zu meinen Anekdoten, die ich bei einer Exkursion nach Marokko, genauer gesagt, in das marokkanische Rif-Gebirge, vor etwa 30 Jahren gehört habe. Die erste drehte sich um ein mit deutschen Entwicklungshilfe-Geldern gefördertes Projekt, das die dortigen Bauern ermutigen sollte, statt der Ölbäume, die frühestens nach 30 Jahren einen brauchbaren Ertrag liefern, auf Walnussbäume umzusteigen, die bereits nach zehn Jahren kommerziell nutzbare Erträge wachsen lassen. Beide Baumfrüchte eignen sich zur Produktion von Öl, und beide sind auch als Früchte (Oliven oder Walnüsse, eben) zu vermarkten. Nach ökonomischen Überlegungen hätte der Nussbaum die Nase vorn haben müssen … doch, leider, waren all die Musteranlagen umsonst. Denn in der Tradition der Berber, aber auch der Araber, die in der Region siedeln, hatte der Ölbaum einen hohen Statuswert, der Nussbaum hingegen keinen. Das wäre vergleichbar damit gewesen, einen Massai-Stamm zu übereugen, Hühner statt ihrer verehrten Rinder zu züchten.
Die zweite Anekdote stammt aus der gleichen Gegend, und wurde offenbar aus der gleichen Quelle finanziert. Jede Familie besaß ihren eigenen Backofen, dessen Betrieb ausschließlich in der Verantwortung der Frauen lag. Um die Öfen zu heizen, mussten sie also jeden Morgen erst mal losziehen, um Holz zu sammeln. Wer den Rif kennt, der weiß schon, dass dort nicht gerade die üppigsten Wälder wachsen: die heimischen Steineichen und Aleppokiefern sind in der Nähe der Siedlungen längst abgeholzt, und das nachgewachsene Macchiengestrüpp gibt heizungsmäßig nicht viel her. Das bedeutete, dass die Frauen immer früher los und immer länger sammeln mussten, bis sie ausreichende Treibstoffmengen beisammen hatten. Von den Schäden an der Vegetation, die dadurch nur noch weiter verarmte, mal ganz abgesehen. Also kamen die Entwicklungshelfer auf die Idee, in den Dörfern kommunale Backöfen zu bauen, die in der Summe erheblich weniger Holz verbrauchten. Gute Idee, nicht wahr?
Als sie einige Zeit später die Dörfer wieder besuchten, fanden die Helfer die Gemeinschaftsbacköfen zerstört, und die Frauen wieder auf ihrer langwierigen und mühsamen Suche nach Brennholz. Was war geschehen? Nun, dank der neuen Öfen mussten die Frauen eben nicht mehr den größten Teil des Tages unterwegs sein, um Holz zu sammeln. Das hieß, sie waren länger zuhause – und das ging den Männern, die sich daran gewöhnt hatten, die alleinigen “Herren” im Haus zu sein, zu sehr auf die Nerven. Also zerlegten sie die Backöfen, um zur alten Gewohnheit zurückkehren zu können.
Beide Anekdoten sind nun weder belegt noch so weit analysiert, dass sie noch andere Faktoren – vom vielleicht nicht ausreichend geringen Holzbedarf über mangelnde Kapazitäten oder falsches Back-Verhalten bei den Öfen über Wasserbedarf, Schädlingsanfälligkeit und Witterungsbeständigkeit sowie die Nachfrage nach oder auch die Haltbarkeit von Nussöl, um mal ein paar spontane Beispiele zu nennen – auch nur ansatzweise berücksichtigen könnten. Es sind, wie gesagt, nur Anekdoten, die als illustrierende Schnörkel die nun folgende Reaktion auf das 300-Dollar-Haus begleiten sollen: Ausgerechnet die wohl den Betroffenen am nächsten stehenden Gründer des Institute of Urbanology, Matias Echanove und Rahul Srivavasta, die sich in ihrer Arbeit auf den Slum Dharavi in Mumbai konzentrieren, verurteilen die Idee eines 300-Dollar-Fertighauses ebenso energisch wie öffentlich, in einem Leitartikel für die New York Times, mit der Überschrift “Hände weg von unseren Häusern“.
Ihre Kritik kann jeder selbst nachlesen, ich fasse sie hier nur kurz zusammen:
- Der Wert eines Hauses liege selbst in Dharavi weit höher, etwa bei 3000 Dollar;
- Die Häuser in Dharavi bleiben über Generationen im Familienbesitz und werden bedarfsweise an- und umgebaut, was mit dem Fertighausprinzip nicht umsetzbar wäre;
- Die Häuser in Dharavi entstehen durch lokale Handwerker, die sich bei lokalen Händlern mit Materialien eindecken.
Vor allem letzters sehen sie als Hauptargument:
Importing pre-fabricated homes would put many people out of business, undercutting the very population the $300 house is intended to help.
Ob das stimmt, lässt sich vermutlich noch nicht mal von einer Zentrale in Dharavi aus mit Gewissheit sagen. Vielleicht wären die Fertighäuser nur ein neues Element, das von lokalen Unternehmern sehr schnell den lokalen Bedürfnissen angepasst würde (und vielleicht den Baustoffhändlern und Handwerkern erst Recht willkommen wäre). Und vielleicht wäre der Nutzen, dass auch jene Armen, die sich eben kein 3000-Dollar-Haus leisten können, nicht nur ein irgendwie beschaffenes Dach über den Kopf, sondern sogar Zugang zur modernen IT-Welt bekämen, weit höher einzuschätzen als die Sorge der Familien, dass ihr Anlagevermögen an Wert verlieren würde. Wenn die obigen Anekdoten überhaupt als Beleg für irgend etwas taugen, dann für die Erkenntnis, dass es auch in der Entwicklungshilfe erstens anders kommt, als man zweitens denkt.
Aber die Sorge, dass hier ein Konzept von außen auf eine Gesellschaft aufgestülpt wird, das nur für einige (wenn überhaupt) einen Nettovorteil bringen kann und zwangsläufig zu sozialen Friktionen führen muss, kann ich zumindest nachvollziehen. Und darum gebe ich den Kritikern Echanove und Srivavasta mit ihrem Schlussgedanken auch hier das letzte Wort:
The $300 house will fail as a social initiative because the dynamic needs, interests and aspirations of the millions of people who live in places like Dharavi have been overlooked. This kind of mistake is all too common in the trendy field of social entrepreneurship. While businessmen and professors applaud the $300 house, the urban poor are silent, busy building a future for themselves.
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