Eigentlich wollte ich mir ein leichteres Thema fürs Wochenende ausdenken, aber erstens stecke ich sowieso noch ein bisschen im Dilemma-Modus, und zweitens wollte ich schon länger etwas über die Farm-Hall-Protokolle schreiben, und nun habe ich das Manuskript eines Theaterstücks gelesen, das der mit mir befreundete Autor (und MIT-Professor) Alan Brody auf der Basis dieses Stoffes geschrieben hat. Es trägt den Titel Operation Epsilon – das alliierte Codewort für die Abhöraktion der in Farm Hall internierten deutschen Kernphysiker.

Alans Stück ist parteiisch: Er akzeptiert den Standpunkt, den auch schon der holländisch-amerikanische Physiker Samuel Abraham Goudsmit – der bei der Internierung seiner deutschen Kollegen eine zentrale Rolle spielte – nach dem Anhören der Protokolle eingenommen hatte: Werner Heisenberg und seine Kollegen hätten nicht, wie sie immer wieder versicherten, mit Absicht das Ziel verfehlt, eine deutsche Atombombe zu bauen – sie hatten nur nicht das nötige Wissen dazu. Ich selbst habe Auszüge der Protokolle nach ihrer Veröffentlichung 1992 gelesen und dazu einen

Artikel

im “Hamburger Abendblatt” veröffentlicht; den Schluss, dass es in Wahrheit nur durch Ahnungslosigkeit der Deutschen verhindert wurde (durch die sie zum Schluss gekommen waren, dass die für eine Bombe nötige Uranmenge zu groß und daher nicht zu beschaffen sei), konnte ich anhand dessen, was ich dort gelesen habe, nicht nachvollziehen. Denn erstens hatte Heisenbergs engster Mitarbeiter, Carl Friedrich von Weizsäcker, in Farm Hall zu seinen Kollegen gesagt:

“Ich glaube, der Grund, dass wir es nicht gemacht haben, war, dass alle Physiker das nicht tun wollten, aus Prinzip nicht. Wenn wir gewollt hätten, dass Deutschland den Krieg gewinnt, dann hätten wir es auch geschafft.”

Und zweitens hatte Heisenberg nur ein paar Stunden, nachdem er vom Bombenabwurf auf Hiroshima gehört hatte, seinen Kollegen in erstaunlicher Präzision den Aufbau und die Dimensionen dieser Bombe erklären können – was vielleicht einem nachträglichen “Lichtblitz” im Hirn des Kernphysikers zuzuschreiben war, aber vielleicht auch nur bestätigt, dass er das Konzept dort schon längst entwickelt hatte.

Aber ich habe ja den Beitrag damit begründet und überschrieben, dass er um Dilemmas und/oder Doppelstandards (das ist, was ich mit “Zwiedenk” gemeint habe) geht. Wo ist nun das Dilemma? Nach längerem Überlegen komme ich zum Schluss, dass es eben nicht in der Einlassung der deutschen Wissenschaftler – zumindest der zentralen Figuren Heisenberg, Weizsäcker und Otto Hahn – zu finden ist, dass sie nie willige Helfer des Naziregimes waren, sondern unter Zwang die Atomwaffenforschung unternehmen mussten. Das ist kein Dilemma, sondern eine Entscheidung, die irgendwo zwischen legitimem Selbstschutz und Feigheit einzustufen ist. Es war auch kein Dilemma (zumindest kein glaubwürdiges), dass sie zwischen der Treue zu Deutschland und einer Abneigung gegen das Naziregime entscheiden mussten: Auch diese moralische Frage hatten viele andere bereits vor ihnen eindeutig für sich beantworten können – zu weitaus höheren Kosten. Die härteste Sanktion, die Heisenberg – beispielsweise – für Nicht-Kooperation bis dahin erfahren hatte, war die Verweigerung des Lehrstuhls für Theoretische Physik in München; doch wenn die Forscher schon so einsichtig waren, dass sie dem Naziregime keinen militärischen Sieg wünschen wollten – warum hätten sie dann noch auf lange Karrieren in einem dann hoffentlich nur noch kurzlebigen System rechnen wollen?

Gab es für die deutschen Forscher hier überhaupt ein Dilemma, also den Zwang, zwischen zwei etwa gleichermaßen unerwünschten Alternativen zu wählen? Was ich in den Protokollen ebenso wie in dem Theaterstück immer wieder finde, ist viel persönlicher als die weltpolitischen Betrachtungen, aber deswegen nicht minder relevant, selbst aus heutiger Sicht: das Dilemma zwischen dem wissenschaftlichen Ehrgeiz, ein gestelltes Problem lösen zu können, und dem moralischen Bedenken, dass diese Lösung missbraucht werden kann, beispielsweise. Löst man es, dann macht man sich moralisch mitschuldig – löst man es nicht (sondern überlässt es anderen), dann riskiert man, als inkompetent und damit wissenschaftlich obsolet angesehen zu werden. Diese Sorgen schienen die deutschen Forscher damals tatsächlich zu beschäftigen – und das verdammende Urteil Goudsmits, dass sie halt doch nur kernwissenschaftliche Stümper waren, zeigt die Berechtigung dieser Sorge.

Doch das Dilemma hat einen missratenen Bruder: den Doppelstandard. Der kommt manchmal ganz unscheinbar gekleidet daher: Man ist ja nur Forscher, nicht Politiker, und dafür, was die Politik aus den Forschungsergebnissen macht, kann man keine Verantwortung übernehmen. Manchmal zeigt er aber auch sein hässlicheres Gesicht: Wenn Forscher wie Heisenberg und Hahn sich einerseits der Schändlichkeit und Brutalität des Systems bewusst waren (was ja in ihren verschiedenen Solidaritätsaktionen für verfolgte jüdische Kollegen zu Ausdruck kam), aber dennoch in diesem und für dieses System arbeiten – auch der angeblich von Heisenberg und Kollegen angestrebte Kernreaktor wäre für die Nazis systemrelevant gewesen – dann können sie nicht länger jede moralische Mitverantwortung von sich weisen. Menschlich ist dieser Versuch zwar verständlich (und ich würde nie von mir behaupten wollen, in so einer Situation für mich anders zu entscheiden), aber er bleibt dennoch moralisch verfänglich.

Am einfachsten haben es hier diejenigen, die solche Skrupel gar nicht erst in sich entdecken. Dass Wissenschaftler wie beispielsweise Albert Einstein, ein überzeugter Pazifist, durchaus innere Konflikte haben mussten, ist begreiflich: Einsteins Brief an Franklin D. Roosevelt war die Initialzündung des Manhattan-Projekts, doch er beruhte ausschließlich auf der Befürchtung, dass andernfalls Deutschland als erstes in den Besitz von Kernwaffen kommen könnte.

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Auch Edward Teller hatte die gleiche Position vertreten: Wir müssen die Bombe bauen, ehe es die Deutschen tun. Ein paar Monate vor seinem Tod hatte ich die Gelegenheit, Teller – der bereits schwer von Schlaganfällen gezeichnet war – zu seinem vermutlich letzten Interview zu treffen (das Zitat in meinem Blogbanner stammt aus diesem Gespräch). Und da er Heisenberg persönlich gut gekannt hatte, wollte ich von ihm wissen, ob er, Teller, denn dessen Einlassung geglaubt habe, dass er und seine Kollegen nie ernsthaft die Entwicklung einer Kernwaffe verfolgt hätten. Seine für mich überraschende Antwort war: “Ja. Ich bin davon überzeugt, dass Heisenberg mit Hitler nie zusammen arbeiten wollte. Aber er war einfach ein zu guter Deutscher. Doch das war in jener Zeit verständlich.” Aber, wollte ich dann wissen, bedeute das nicht, dass damit das Manhattan-Projekt zumindest aus der historischen Rückschau unnötig war? Würde er, mit diesem Wissen, heute noch genau so entscheiden wie damals? Seine Antwort: “Aber natürlich.”

Nachtrag: Und damit klar wird, dass er dies auch genau so gemeint hat, hier der Rest des Interviews, wie es in FOCUS erschienen war:

Durch Ihre Haltung stehen Sie für viele für das Unheimliche, auch Bedrohende der Wissenschaft. Der Filmregisseur Stanley Kubrick nahm Sie gar zum Vorbild für seine Titelfigur in „Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben”.
Ich hatte keine Angst vor der Kernforschung. Ich heiße jedes Wissen willkommen.
Uneingeschränkt?
Absolut uneingeschränkt. Wenn etwas machbar ist, dann sollten wir es auch machen.
Das ethische Problem ist doch nicht, was Wissenschaft kann, sondern was Wissenschaft soll.
Man muss Vertrauen in den Menschen haben. Nur weil man Wissen auch falsch nutzen kann, darf man nicht darauf verzichten. Wenn wir das getan hätten, dann wären wir noch tausend Jahre zurück. Sicher muss es auch Beschränkungen geben – aber nicht bei der Erforschung des Wissens, sondern bei dessen Anwendung. Man muss die weltweite Zusammenarbeit fördern – auch wenn die Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn heute sogar schwieriger ist als früher. Das macht es nur notwendiger.

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Kommentare (9)

  1. #1 WolfgangK
    10. Juni 2011

    Abgesehen davon, dass viele in dem damaligen Dilemma zwischen preußischer Treue-Tradition und Ideologie-Ablehnung standen und deshalb den für sie einfachsten und überlebenswahrscheinlichsten Weg gingen, ist mir jedoch die Möglichkeit einer atomaren Bewaffnung neu. Eher war ich der Ansicht, dass Psychopath Adolf durch seine menschenverachtende Politik neben Einstein auch viele andere Wissenschaftler zur Flucht gezwungen hat, deren Knowhow dem dritten Reich genutzt hätten. Hitler war ja nicht gerade als wissenschaftsfreundlich einzustufen, und seine Ahnungslosigkeit davon, welches Potential er aus dem Land geworfen hat, war ihm zum Glück wohl nie bewusst. Insofern finde ich die Interpretation der Aussagen Heisenbergs recht interessant und müssen wohl von mir neu bewertet werden.

  2. #2 Christian A.
    11. Juni 2011

    (Aus dem Interview)

    Nur weil man Wissen auch falsch nutzen kann, darf man nicht darauf verzichten. Wenn wir das getan hätten, dann wären wir noch tausend Jahre zurück. Sicher muss es auch Beschränkungen geben – aber nicht bei der Erforschung des Wissens, sondern bei dessen Anwendung.

    Ich mag die Position von Teller.

    Mir hat letztens (im April; ein Monat nach Fukushima) eine Kneipenbekanntschaft einen mental blue screen of deatch verpasst. Ich saß ungefähr ein, zwei Minuten da und hab nichts gemacht. Was hat sie getan? Nachdem ich ihr erzählt habe, was ich beruflich mache (bin Doktorand in der Physik), kam von ihr die simple Frage “Müssen wir denn alles wissen?”. Die richtige Antwort lautet “Ja natürlich, sei nicht albern!”
    Ich hab diese Frage nur niemals zuvor gestellt bekommen geschweige denn bin von selbst darauf gekommen, daher konnte ich die richtige Antwort nicht geben.

  3. #3 Frank Wappler
    11. Juni 2011

    Christian A. schrieb (11.06.11 · 08:07 Uhr):
    > “Müssen wir denn alles wissen?”. Die richtige Antwort lautet “Ja natürlich, sei nicht albern!”

    Die zumutbare Antwort lautet
    “Nein (natürlich nicht; sei nicht albern!).
    Aber wir möchten gern wissen, wie wir mehr davon wissen können, was wir wissen könnten, wenn wir wollten.”

    > Ich hab diese Frage nur niemals zuvor gestellt bekommen geschweige denn bin von selbst darauf gekommen […] (bin Doktorand in der Physik)

    Das lässt zweifeln, ob du überhaupt von selbst darauf gekommen bist, Physik zu studieren …

  4. #4 Christian A.
    11. Juni 2011

    Nachtrag zu meinem obigen Kommentar: Ich seh grad, dass ich vergaß zu erwähnen, dass ich auf die Frage nichts antworten konnte, schon gar nicht die richtige Antwort. Muss schon ganz lustig ausgesehen haben ^^

    @Frank Wappler: Was willst du mir sagen? Kannst du hier auch was anderes als kryptoidiotische Kommentare verfassen? Aber zu deiner Beruhigung: “Das lässt zweifeln, ob du überhaupt von selbst darauf gekommen bist, Physik zu studieren” Nein, die Freiheit des Wissenwollens ist mir immer so selbstverständlich gewesen, dass diese Frage sich mir nie stellte.

  5. #5 Dr. Webbaer
    12. Juni 2011

    Ein bemerkenswertes Dokument! – Teller hat sich allerdings in seinen Einstellungen zum erörterten Dilemma nie anders ausgedrückt.

    Die Alternative wäre eben der politische Wissenschaftler, der misstrauisch gegen die Gesellschaft (demokratischer moderner Systeme) ist und selbst ein politischer Faktor wird. So ein politischer Faktor stände dann natürlich ohne Mandat da, insofern ist die Position Teller’s nachvollziehbar, wenn auch “etwas” rechtwinklig.

    MFG
    Dr. Webbaer (der nun immerhin das Teller-Zitat bzw. dessen Vorhandensein im Blog-Header versteht)

  6. #6 Ralph Ulrich
    13. Juni 2011

    Soweit ich weiss (kenne das Theaterstück nicht, habe nur journalistische Sekundärliteratur dazu gelesen), hatte sich das Heisenberg Team bei den Voraussetzungen für die Atombombe um eine Zehnerpotenz verrechnet (notwendige Anreicherung oderso). Dadurch schien die Atombombe von den Resourcen her gesehen unerreichbar.

    Jetzt rechnet man so eine wichtige für Forschungsentscheiungen tragende Voraussetzung normalerweise dreimal nach, wodurch der Fehler der Größenordnung leicht herausgekommen wäre. Vielleicht war also das Ergebnis der Berechnung ganz im Sinne des Gewissens des Forscherteams und wurde deswegen nicht in Frage gestellt und nachkontrolliert. Wir wissen es nicht. Ich glaube, dass es in Sachen Geist und menschlicher Psychologie auch eine Art von “Unschärferelation” gibt, also zwei Wahrheiten gleichzeitig “unbestimmt” bestehen können.

  7. #7 YeRainbow
    14. Juni 2011

    klar. Nennt man Kognitive Dissonanz (nach Festinger)

  8. #8 Frank Wappler
    15. Juni 2011

    Christian A. schrieb (11.06.11 · 16:18 Uhr):
    > Was willst du mir sagen?

    Dass ein Zwiespalt darin besteht,
    einerseits (laut Bohr) zu verlangen:

    Wir müssen unseren Freunden sagen können, was wir getan und was wir herausgefunden haben

    ,
    aber sich andererseits (nach Bohr) auch damit zufrieden zu geben, dass
    “wir unseren Freunden sagen, was wir tun würden, und was wir dadurch herausfinden könnten”.

    > Kannst du hier auch was anderes als kryptoidiotische Kommentare verfassen?

    Falls überhaupt, dann offenbar höchstens: kosmopolitische Blogartikel.

  9. #9 Christian A.
    15. Juni 2011

    … nee, mir ist immer noch nicht klar, was du mir oder der Welt sagen willst.