So etwa ließe sich ein ganz normaler Abend in meiner Familie (genauer gesagt: der Familie, in der ich aufgewachsen bin) umschreiben. Wobei mit “streiten” nicht so sehr das aggressive Wortgefecht um alltägliche Belange – wer trägt den Müll raus, wer hat vergessen, die Klorolle zu erneuern, was machen wir am Wochenende – gemeint ist, sondern die Lust am Debattieren, am Einnehmen kontroverser Standpunkte. In politischen Fragen, beispielsweise. Und da konnte es bei Schönsteins am Abendbrottisch manchmal ziemlich hitzig hergehen. Und deswegen muss ich, zumindest aus eigener Erfahrung, der Prämisse widersprechen, die das Paper über Why do humans reason? Arguments for an argumentative theory im Journal Behavioral and Brain Sciences gleich in seinem ersten Satz macht: “Reasoning is generally seen as a means to improve knowledge and make better decisions.” Nein, unsere Fähigkeit zu Argumentieren (und das ist nun mal eine der Hauptbedeutungen des Wortes “reasoning”) wurde nicht entwickelt, um uns bessere Erkenntnisse zu verschaffen oder bessere Entscheidungen zu entwickeln – wir argumentieren, um Recht zu haben.

Aber genau das ist – nur halt eben nicht ganz überraschend – das Fazit des Papers: Das, was wir “logisches Denken” nennen (obwohl es manchmal einer eigenwilligen “Logik” folgt, aber dazu später mehr), hat sich im Lauf unserer Evolution nicht entwickelt, damit wir unsere eigenen Positionen intern laufend korrigieren und quasi solitär zu so etwas wie der “Wahrheit” (manchmal soll das etwa das Gleiche sein wie die “Wirklichkeit”) finden, sondern damit wir Argumente formulieren können, mit denen wir uns in der Gruppe streiten können. Aber in einer “normalen” Streitkultur, in der alle etwa denn gleichen Zugang zu Informationen haben, führt das meist tatsächlich zu besseren Resultaten:

The main function of reasoning is argumentative: Reasoning has evolved and persisted mainly because it makes human communication more effective and advantageous.

Eigentlich ist das alles, wie schon gesagt, gar nicht überraschend. Auch nicht, dass es für die Anforderung an “saubere” Argumentation – also logisch stringent, nur durch Fakten gestützt, ohne Emotionen etc. – keine evolutionäre Begründung gibt. Mit anderen Worten: Wenn es darum geht, in einer Diskussion Recht zu haben, dann ist erst mal jedes “argumentative” Mittel recht. Es geht darum, andere für die eigene Position zu gewinnen, und nicht um ein abstraktes Konzept von “Wahrheit” (wie jede amerikanische Gerichts-TV-Serie, von Perry Mason bis Law & Order, zu bestätigen scheint). Und selbst der “confirmation bias”, die Neigung also, nur nach solchen Fakten und/oder Argumenten zu suchen, die die eigene Position bestätigen, aber alles andere zu ignorieren, ist laut diesem Paper nicht etwa eine Dysfunktion des Argumentierens, sondern ein essentieller, evolutionär begünstigter Bestandtteil desselben:

For standard theories of reasoning, the confirmation bias is no more than a flaw of reasoning. For the argumentative theory, however, it is a consequence of the function of reasoning and hence a feature of reasoning when used for the production of arguments.

“Argumentative Theory” ist übrigens, was ich beinahe vergessen hatte zu erwähnen, nur der Fachbegriff für die psychologisch-soziologische Theorie, die ich hier zu beschreiben versuche. In der Tat gibt es Hinweise darauf, dass es manchmal schlechter sein kann, wenn alle Beteiligten sowieso der gleichen (Grund-)Auffassung sind: Gruppendenken wird beispielsweise in der Fachliteratur für solche Fiaskos wie die gescheiterte Invasion in der kubanischen Schweinebucht oder auch das Challenger-Unglück verantwortlich gemacht:

In such cases, reasoning tends not to be used in its normal context: that is, the resolution of a disagreement
through discussion. When one is alone or with people who hold similar views, one’s arguments will not be critically evaluated.

Aber das heißt natürlich nicht, dass der Sturste, der lauteste Brüller, der schlimmste Demagoge dann auch Recht hat. Damit der Prozess des Argumentierens wirkt, muss irgendwann ein Abgleich der Argumente folgen – und da sind, wir, so schreiben die Autoren hoffnungsvoll, zum Glück etwas anders kalibriert als beim Ausdenken unserer eigenen Argumente:

Even from a strictly epistemic perspective, the argumentative theory of reasoning does not paint a wholly disheartening picture. It maintains that there is an asymmetry between the production of arguments, which involves an intrinsic bias in favor of the opinions or decisions of the arguer whether they are sound or not, and the evaluation of arguments, which aims at distinguishing good arguments from bad ones and hence genuine information from misinformation.

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Kommentare (17)

  1. #1 miesepeter3
    27. Juni 2011

    Alles Trolle von Geburt? Herrlich! 😉

  2. #2 KommentarAbo
    27. Juni 2011

  3. #3 Florian Hauschild
    27. Juni 2011

    Sehr schön…wäre ne Zweitveröffentlichung auf le bohemien drin?

    VG

    Florian

  4. #4 Thomas J
    27. Juni 2011

    @Jürgen

    “oder dass alle Menschen von Natur aus das gleiche Recht auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück haben”

    Wusst ich nicht… wann wurde denn dieses Naturgesetz entdeckt? 😉

  5. #5 Dr. Webbaer
    27. Juni 2011

    Nein, unsere Fähigkeit zu Argumentieren (und das ist nun mal eine der Hauptbedeutungen des Wortes “reasoning”) wurde nicht entwickelt, um uns bessere Erkenntnisse zu verschaffen oder bessere Entscheidungen zu entwickeln – wir argumentieren, um Recht zu haben.

    Sie meinen wohl “Recht zu bekommen”, das wäre dann die sozio-pädagogische Sicht auf die Dinge, die aber ein wenig ungünstig ist und die Individuen unterschätzt. Wie sagte doch die evangelisch sozialisierte Dame, die wir uns an dieser Stelle prototypisch vorstellen, jeder kennt sie [1], “Wenn zwei sich streiten, haben beide Unrecht.”

    [1] hiesige Kommentatoren sind nicht gemeint

  6. #6 Nils
    27. Juni 2011

    Interessante Thematik. Das Paper lese ich mir vielleicht noch mal durch, wenn ich Zeit für 17 Seiten Text habe. Aber auch ohne das Paper selbst zu kennen, stimme ich dir zu: Wir argumentieren um Recht zu haben. Deshalb ist es gleich doppelt schön, wenn wir im Streit oder in einer konstruktiven Diskussion merken, dass wir eigentlich unrecht hatten.

    Und das letzte Zitat ist großartig – ich finde es fasst wunderbar zusammen, was den Menschen eigentlich ausmacht. Wir sind eben Gesellschaftstiere.

  7. #7 Dr. Webbaer
    27. Juni 2011

    @Nils
    Ob man Recht hat, kann man bei diesen Debatten meist nicht herausfinden …

    Es geht also meist schon, in der Politik ist das offensichtlich, um die Meinungsführerschaft. – Im wissenschaftlichen Bereich mag das teilweise anders aussehen, gerade auch wenn die jeweilige Wissenschaft eine gewissem Härte hat, aber meist geht es schon um die Führung. Gerade auch in den Sozialstudien, im wirtschaftlichen Bereich und eben im Unwissenschaftlich-Gesellschaftlichen.

  8. #8 Roman
    27. Juni 2011

    Sehr schöner, flüssiger und verständlicher Artikel. Das Lesen ist ein Genuss! Danke für das Veröffentlichen.

  9. #9 schnablo
    27. Juni 2011

    Falsches Denken konnte Jahrhunderte lang dazu führen, dass Menschen für richtige Erkenntnisse (zum Beispiel, dass die Erde sich um dier Sonne dreht, oder dass alle Menschen von Natur aus das gleiche Recht auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück haben) auf Scheiterhaufen und in Kerker geschickt wurden.

    Wenn nicht der Einzelne, sondern die Gruppe das vernuenftige Subjekt ist, dann sind derartige Dinge, die in erster Linie der Selbsterhaltung (der Gruppe) dienen, doch absolut logisch und nachvollziehbar. Ueberhaupt geht es doch mehr um Nutzenmaximierung als um “Wahrheit”.

  10. #10 Buck Rogers
    28. Juni 2011

    Also ich für meinen Teil argumentiere auch gerne mal gegen meine eigene Auffassung, um zu sehen was andere für Gegenargumente haben, die mir noch nicht in den Sinn kamen. Als 16 jähriger, langhaariger Metalfreak habe ich mal ein Streitgespräch mit ‘nem Punk geführt.
    Ich habe mich als rechtsradikal geoutet und habe mit Argumenten um mich geworfen, die ich von unseren Dorf-Faschos aufgeschnappt hatte, natürlich etwas verfeinert. Als er dann anfing mir Zugeständnisse zu machen, wurde es mir aber zu blöd und ich habe die Sache aufgeklärt. Man kann Leute so arg beeinflussen, wenn man nur die richtigen Worte wählt und weiß wie man sie kriegen kann (siehe Sarrazin).
    Am schlimmsten sind die Leute, die, wenn sie merken, ihr Gedankengerüst könnte zusammenfallen, weil ihre Argumente haltlos sind, einfach nur sagen:
    “Das ist halt meine Meinung! Basta!”
    das ist so wie
    “Ich glaube halt an Gott, deshalb habe ich Recht, dass es ihn gibt!”

  11. #11 Bullet
    28. Juni 2011

    @Buck: das Verfahren nennt sich “Advocatus Diaboli” und ist eine feine Sache, wenn man herausfinden will, wie gut jemand seine Argumentationsgrundlage vorbereitet hat. 🙂

  12. #12 Frank Wappler
    28. Juni 2011

    Jürgen Schönstein schrieb (27.06.11 · 03:26 Uhr):
    > Es geht darum, andere für die eigene Position zu gewinnen

    Grundsätzlicher und längerfristiger geht es (sicher manchen) darum, eine (argumentative) Position einzunehmen bzw. sich einer solchen anzuschließen, die auch dann gewinnend wäre, wenn man sie sich (noch) gar nicht zu eigen gemacht hätte.

    > in den ScienceBlogs sind die längsten Kommentar-Stränge immer jene, in denen sich zwei oder mehr Parteien absolut nicht einigen können

    Insbesondere wohl, wenn mindestens eine der involvierten Parteien sich nicht einmal dahingehend positioniert, wie eine eventuelle Einigung denn überhaupt festgestellt und zum Ausdruck gebracht werden könnte; abgesehen vom offensichtlich miss-interpretierbaren “Überlassen des letzten Wortes”.

  13. #13 Dr. Webbaer
    28. Juni 2011

    Bei fachlichen Diskussionen im Kooperationskontext geht es in der Regel um eine Einigung, die herbeizuführen ist, da ansonsten keinen debattantenübergreifende wichtige Einigung zu erzielen ist, was das weitere Vorgehen betrifft. Bei politischen Diskussionen geht es um die Einwandbehandlung, die abzurunden ist, und um das Werben für die eigene Position.

    Es geht im aufgeklärten Umfeld nicht darum “Recht zu haben”, wie der Artikel insinuiert.

    MFG
    Dr. Webbaer

  14. #14 miesepeter3
    28. Juni 2011

    nur mal so aus persönlicher Lebenserfahrung :

    Sich streiten ist allemal besser, als gar nicht mehr miteinander reden.

  15. #16 YeRainbow
    29. Juni 2011

    zu viele Vorannahmen.

    Menschen debattieren, weil sie es können.
    Wie gut, ist eine andere Frage.
    Daß sie letztlich alles tun, um etwas zu erreichen (das sehr individuell sein kann), erklärt nicht, wie diese humane fähigkeit entstand.

    Ganz und gar nicht.

  16. #17 Thomas J
    29. Juni 2011

    @Jürgen

    Nana… dieses “von Natur aus gegebene Rech” ist immernoch von Menschen gemacht (definiert).
    Ich wollte nur darauf hinweisen, dass man das nicht mit Naturgesetzen gleichsetzen kann. So hab ich jedenfalls den Abschnitt verstanden im obigen Artkel.