Wobei “Medizin” hier im eher umgangssprachlichen Sinn gemeint ist – wie die Medizin, die man schluckt, und nicht die ganze Heilwissenschaft und -Praxis an sich. Denn letztere ist ja schon ganz gut auf wissenschaftliche Beine gestellt (auch wenn’s immer noch besser gehen kann), was die Nachweise = Evidenzen ihrer (Er-)Kenntnisse angeht. Aber bei dem, was dann für den Patienten rauskommt, sprich: den Pillen/Tröpfchen/Salben etc., die er dann verschrieben bekommt, ist die Evidenz alles andere als erkennbar. Finden jedenfalls die Medizinwissenschaftlerin Lisa M. Schwartz und ihr Kollege Steven Woloshin von der Dartmouth Medical School in einem Meinungsbeitrag für die heutige New York Times.

Die Idee, dass den verschreibungspflichtigen Medikamenten zu wenig Information beigefügt ist, wirkt im ersten Moment beinahe lachhaft: Die Beipackzettel sind inzwischen kleine Pamphlete, vollgestopft mit allerlei Informationen über Nebenwirkungen und Kontraindikationen, mit Beschreibungen der aktiven Wirkstoffe sowie weiterer enthaltener Substanzen etc. Wer hätte schon die Zeit, das alles zu lesen?

Nun, wer sich die Zeit nähme, würde überrascht feststellen – was ich hier schreibe, gilt primär für die USA, aber so weit ich es von hier aus beurteilen kann, sind die Verhältnisse in Deutschland vergleichbar – dass er zwar eine Menge über das Medikament erfährt, aber das Wichtigste nicht: wie es wirkt. Und mit Wirkung ist gemeint, was man auch im wissenschaftlichen Sinn versteht: Um wieviel es besser ist als ein Placebo, und zwar mit Daten gestützt.

Denn das ist die Crux: Bisher sind die Hersteller nicht angewiesen, die Daten zu veröffentlichen, mit denen das Medikament eine FDA-Zulassung erhalten hat. Sicher, in vielen Fällen wurden Studien durchgeführt, deren Resultate sogar in Fachpublikationen veröffentlicht wurden – aber erstens ist das nicht notwendig für den Genehmigungsprozess (will heißen: die Food and Drug Administration prüft und genehmigt auf der Basis von Studien, die ihr vorgelegt werden – ob diese peer-reviewed veröffentlicht wurden oder nicht, ist dabei nebensächlich), und zweitens macht dies, angesichts von Tausenden wissenschaftlicher Journale und überlastete Praxisärtzen auch keinen großen Unterschied. Weil der verscheibende Arzt gar nicht alles gelesen haben kann. Und das Material, das ihm die Pharmafirmen an die Hand geben, ist natürlich nicht objektiv, sondern verkaufsfördernd konzipiert.

Schwartz und Woloshin schlagen darum einen einheitlichen Informationskasten vor, der den Packungen aufgedruckt werden sollte und der in tabellarischer Form die Wirksamkeit des Medikaments dem Placebo gegenüber stellt. Damit lässt sich nicht nur der Nutzen, sondern auch das Risiko des Medikaments deutlicher quantifizieren – was sowohl dem Arzt als auch dem Patienten hilft, beide besser gegeneinander abzuwägen.

Als Beispiel nehmen sie den Antidepressions-Wirkstoff Aripiprazol, der in den USA unter dem Handelsnamen Abilify vertrieben wird. Bisher genügt es, wenn im Beipackzettel steht, dass dieses Medikament “einem Placebo überlegen” ist – aber wenn der Patient erführe, dass dies nur ein Zehnpunkte-Vorsprung gegenüber dem Placebo ist (in den klinschen Tests bezeichneten sich 25 Prozent der Versuchsgruppe als “nicht mehr depressiv”, gegenüber 15 Prozent in der Kontrollgruppe), dass aber andererseits 25 Prozent der Verumgruppe unter einem klinisch signifikanten Bewegungsdrang (Akathisie) litten jedoch nur vier Prozent in der Placebogruppe, und dass auf einer 60-Punkte-Bewrtungsskala für klinische Depressionen das Medikament eine Verbesserung um neun Punkte, das Placebo aber immer noch um sechs Punkte bewirkte – dann sieht die “Wirksamkeit” der Substanz, auch wenn sie statistisch relevant ist, schon bescheidener aus.

Nun ist es ja bereits bekannt, dass gerade bei Antidepressiva der Placeboeffekt eine große Rolle spielt (dazu habe ich hier schon mal geschrieben). Bei anderen Mitteln, beispielsweise gegen Herzkrankheiten oder Magenbeschwerden, dürfte der Wirksamkeitsnachweis viel klarer ausfallen. Aber auch – oder gerade dann – sollte es im Interesse der Patienten, Ärzte und der Hersteller liegen, diese Vorzüge auch klar, deutlich und vergleichbar herauszustellen. Im Englischen nennt man so eine Offensichtlichkeit übrigens einen “No-Brainer”. Nicht etwa, weil man kein hirn dazu braucht – aber wiel es sich nicht sonderlich anstrengen muss, um selbigen zu begreifen.

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Kommentare (12)

  1. #1 tschill
    5. Juli 2011

    Interessanter Vorschlag, hat aber ein Problem – gegen was und in welchen Kategorien soll hier verglichen werden? Placebo hört sich erst mal gut an, aber aus ethischen Gründen werden die wenigsten Studien wirklich gegen Placebos durchgeführt. Was soll man also auf die Packung drucken, wenn Studie A die Suizidalität gegen Medikament B, Studie C die Akathisie gegen Placebo und Studie D das subjektive Empfinden gegen Medikament E in einer Kombinationstherapie mit F untersucht?
    Kaum zu durchschauen und abzuwägen für Fachleute, geschweige denn in einer einfach ersichtlichen Tabelle dem Patienten zu vermitteln.

  2. #2 MartinS
    5. Juli 2011

    Ich, als Patient, möchte die vorgeschlagenen Informationen gar nicht wissen – mal abgesehen davon, dass ich sie nicht verstehen würde – denn ich würde zusätzlich noch verunsichert, würde meinen Arzt nerven, warum ich denn nur dies Medikament und kein anderes bekäme, und würde ihm schlimmstenfalls nicht mehr vertrauen.
    Ich halte das für einen verunglückten Informationsversuch, der Patienten nur verunsichert. (Dass die Ärzte oder Pharmazeuten/Apotheker die verfügbaren Studien kennen sollten, ist eine andere Sache! Da wäre eine Offenlegung zu begrüßen.)

  3. #3 Theres
    5. Juli 2011

    Eine ausgezeichnete Idee, so informativ sind die Beipackzettel nämlich nicht.
    Wenn sie die Beipackzettel dann noch lesbar drucken, hat man bei einigen Medikamenten ein Buch?
    Ich würde es trotzdem begrüßen, auch wenn die Inhaltsstoffe/ Allergikerwarnungen besser zu lesen wären (und meinem Arzt vielleicht endlich vor dem Verschreiben bekannt 🙁
    Aber … das wäre vielleicht doch etwas für eine Revolution in der Apothekenumschauredaktion, die mühelos weniger Unsinn und Werbung und mehr echte Infos unterbringen könnte.

  4. #4 MartinS
    5. Juli 2011

    @Theres
    Was hast Du gegen die Apothekenumschau?
    Versuch mal Playboy und Brigitte seniorengerecht in eine Zeitschrift zu bringen 😉

  5. #5 Theres
    6. Juli 2011

    @MartinS
    Pruuuuust – Bildschirmabwisch – der war gemein.
    Ich habe leider nichts gegen die, das ist ja mein Problem 😉

  6. #6 miesepeter3
    6. Juli 2011

    Nette Idee. Glaube aber nicht, dass das den Herstellern gefallen würde. Manche Medikamente liegen nur ganz unwesentlich in der Wirkung über einem Placebo und/oder einem Vergleichsmedikament. Da würde der Patient möglicherweise merken, dass er mit einem anderen Medikament besser bedient wäre.
    Und was ist mit Medikamenten, bei denen erst später festgestellt wird, dass sie auch zusätzlich gegen etwas ganz anderes wirken, als ursprünglich untersucht? Die sind schon zugelassen und müssen nicht noch einmal ihre (neue) Wirkung in einer Studie nachweisen. Was sollte dann auf dem Waschzettel stehen, wenn es mit der neue festgestellten Wirkung verwendet werden soll? (z.B. Kopfschmerzmittel wirkt auch gegen Entzündungen).

  7. #7 REALM
    6. Juli 2011

    @tschill
    >>Interessanter Vorschlag, hat aber ein Problem – gegen was und in welchen Kategorien soll hier verglichen werden? <<< Ganz einfach, Wirkstoff gegen Nicht-Wirkstoff. Es ist an der Zeit, das Zeitalter der medizinischen Aufklärung zu starten, damit wird den Scharlatanen genau so den mitunter präpotenten Pharmakologen samt dem angehängten medizinischem Apparat der Wind aus den Segeln genommen. Vielleicht beginnt dann ein leichtes Umdenken bei den Menschen in Richtung: "Was kann ich selbst für mich vorbeugend machen!" Ganz besonders im psychischen Bereich, da tummelt sich eine riesige Anzahl von Gaunern herum, klassisch sowie alternativ. Ebenso wären natürlich Vergleichstudien zwischen Psychologen/Psychiatern/Geistheilern... ein breites und vor allem abgrundtiefes Betätigungsfeld für seriöse Wissenschaftler.

  8. #8 Dagda
    6. Juli 2011

    @ Realm

    Interessanter Vorschlag, hat aber ein Problem – gegen was und in welchen Kategorien soll hier verglichen werden?

    Ganz einfach, Wirkstoff gegen Nicht-Wirkstoff

    So einfach ist es nicht. Für viele (neue) Medikamente, seien das Mittel gegen Bluthochdruck oder aber auch Psychopharmaka gibt es ja Vorgängerpräparate oder andere Medikamente die bei der selben Krankheit helfen sollen (im Beispiel Depression). Richtig wäre es daher eigentlich immer nur die bereits verfügbaren gegen das jeweils neue Medikament zu testen. ( und auch ethisch besser, weil man dann keine Plazebos verabreichen muss obwohl es schon wirksame Medikamente gibt).
    Macht man aber natürlich in vielen Studien nicht weil man hofft im Vergleich mit Plazebo besser abzuschneiden.

  9. #9 Andreas
    6. Juli 2011

    Ja, wenn man unbedingt den Placebo-Effekt auch im Kopf des Patienten ausschalten will, dann sollte man die Vergleichsstudien auch abdrucken. Wenn man nicht wirklich geschult im Lesen von med. Statistiken ist, wird man die Wirkung wahrscheinlich als zu gering betrachten und das Med nicht nehmen.

    Wenn man den Placebo-Effekt aber auch bei klassischen Medikamenten mit nutzen will, muss man menschlich rangehen, nicht wissenschaftlich. Ein Patient muss eigentlich nur wissen: Welche Wirkungen SOLL das Medikament haben und welche Nebenwirkungen kann das Medikament NICHT haben. Das ist zwar nicht die vollständige Information, aber ich muss ja auch nicht lesen, das ich davon Magenschmerzen bekommen könnte. Denn dann bekomm ich vielleicht wirklich welche oder bilde mir das zumindest ein. Aber WENN ich wirklich Magenschmerzen bekomm, geh ich sowieso zum Arzt. DER muss dann wissen, dass es vom Medikament kommen kann, und der kann mir das dann auch sagen. Wenn man sich mal die Waschzettel ganz neutral anschaut, steht bei jedem Medikament nahezu alles an (möglichen) Nebenwirkungen. Die meisten Patienten lesen das nicht. Nicht weil sie nicht lesen können oder es nicht verstehn, sondern weil sie es einfach nicht wissen WOLLEN. Die intuitive Placeboeffekt-Erhaltung, sozusagen.

    Der Placebo-Effekt ist eigentlich Selbstbeschiss, nicht? Also sollte man den Leuten helfen, sich selbst zu bescheißen, nicht sie daran hindern. Rein aus medizinischen Gründen. Die Homöopathen haben das begriffen, nur eben nicht, dass der Hahnemannsche Käse nichts mit der physikalischen/chemischen Realität zu tun hat.

  10. #10 ulfi
    6. Juli 2011

    @Andreas
    Verschreibt der Arzt ein wirklich wirksames Medikament und es steht drauf…was sollte mich als Patienten dann daran hindern, an der Wirkung zu glauben? Immerhin werden mir ja die Zweifel (“Wirkt das wirklich?”) abgenommen.
    Also sollte das den Placeboeffekt bei diesen Medikamenten wirklich verstärken.

  11. #11 ulfi
    7. Juli 2011

    Ich entschuldige mich für dne Doppelkommentar :).

    Spiegel Online hat mich nämlich heute früh total Überrascht. Exakt in dem Moment, als ich die Wissenschaftsrubrik völlig abschreiben wollte, erscheint dort dieser Medizinische Artikel, der für mich aus dem ersten Blick wie absolut sauberer Wissenschaftsjournalismus aussieht:
    https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/0,1518,771575,00.html

    Nun kann ich das nicht glauben und die Evidenz deutet eher auf ein Fehlurteil meinerseits hin. Was sagt der Profi dazu? Sollte Wissenschaftsjournalismus so aussehen? Oder ist da sbereits zu Technisch? Oder ganz anders? Um die Kurve in dieses Thema zu kriegen: ist eine solche Aufbereitung von Studien nicht eigentlich ein Schlag in die gleiche Kerbe, wie die Ergebnisse auf die Packung zu drucken?

  12. #12 fatmike182
    10. Juli 2011

    schlechte Idee, verwirrt den Konsumenten noch mehr.
    Diese Info soll dem Arzt & Apotheker zukommen. Medikamente sind ohnehin nicht exakt, also würden die meisten Patienten zu dem greifen, das besser gg Placebo abgeschnitten hat ohne Ahnung davon zu haben, ob das für sie geeignet ist.

    @ miesepeter3
    Blödsinn… Außer seltenem Off label use müssen Medikamente natürlich auch für andere Behandlungsweisen Studien machen (siehe Avastin).
    … “nur ganz unwesentlich in der Wirkung über einem Placebo” — ahm, ja, manche…
    … “und/oder einem Vergleichsmedikament” — dafür dann besser im Nebenwirkungsprofil…

    @ ulfi
    der Spiegelartikel ist absolut sauber, es geht vllt bisschen unter, dass es nur um chron Rückenschmerzen geht.