You can fool all the people some of the time, and some of the people all the time, but you cannot fool all the people all the time.

Die Popularität dieses fälschlicher Weise Abraham Lincoln zugeschriebenen Spruches begründet sich darin, dass er zu unterstellen scheint, es gebe so etwas wie eine kollektive Vernunft, einen gemeinsamen Weg, zur “Wahrheit” zu gelangen. Doch wenn das stimmt – warum gibt es dann so viele gesellschaftliche/politische Irrtümer, die sich hartnäckig halten und auf breiter Basis akzeptiert werden, obwohl sie nachweislich als Trugschlüsse entlarvt sind? Wie beispielsweise der in den USA scheinbar unverrückbare, wenngleich als Irrtum entlarvte Glaube ist, dass Steuersenkungen für Vielverdiener die Einnahmen des Fiskus steigern kann. Oder die auch in Deutschland oft zu hörende Überzeugung, dass unternehmerisches Handeln immer dem politischen Handeln überlegen sein muss – obwohl Generationen von Nieten in Nadelstreifen bereits bewiesen haben, dass auch unter Managern und Unternehmern die Kompetenz dünn gesät sein kann. Eine mögliche Erklärung findet sich in dem Paper

Social consensus through the influence of committed minorities

, das aktuell in der Physical Review E erschienen ist – demnach genügt eine entschlossene und unbeirrbare Minderheit von zehn Prozent, um bereits in kürzester Zeit die gesamte Population von ihrer Position zu überzeugen: “Once that number grows above 10 percent, the idea spreads like flame”, erklärt Boleslaw Szymanski, Professor für Computerwissenschaften und Co-Autor des Papers.

Tipping Point.gif

Ein Zehntel? Also ein Fanatiker, beispielsweise, unter Zehn würde genügen, um eine ganze Population zu Fanatikern zu machen? Laaangsam: Das Paper wurde von Mathematikern, Physikern und Computerwissenschaftlern des Rensselaer Polytechnic Institute in Troy (New York) für eine physikalische Fachzeitschrift verfasst, und es beruht – soweit ich es überhaupt verstehen kann (ich bin bei der Lektüre sehr schnell an meine Grenzen gestoßen) – nicht auf empirischen Sozialdaten, sondern auf Netzwerkmodellen und -Simulationen.

Vielleicht ist ja irgendwo in den zahlreichen Formeln/Algorithmen auch ein Gewichtungsfaktor für die zu analysierenden Positionen enthalten – aber wenn, dann ist er erstens gut versteckt und zweitens in der Gesamtbetrachtung untergegangen. Nicht jede Idee hat die gleiche Überzeugungskraft, und es mag sicher leichter möglich sein, eine radikale Position durchzusetzen, wenn moderatere Versionen derselben sowieso schon zum Meinungs-Mainstream zählen – aber ob zum Beispiel eine Zehntelminderheit genügen würde, um die USA in kurzer Zeit in eine Monarchie oder meinetwegen auch in eine soziale Marktwirtschaft zu verwandeln (beide Vorstellung sind den meisten Amerikanern wirklich zutiefst abhold), das muss doch bezweifelt werden. Einfachstes Beispiel: In den USA sind 12,7 Prozent der Bevölkerung afroamerikanisch – und trotzdem müssen die Schwarzen immer noch um ihre soziale und meist auch ökonomische Gleichstellung kämpfen. Trotz Barack Obama im Weißen Haus sind die USA noch weit davon entfernt, so etwas wie Rassenschranken und -Vorurteile hinter sich zu haben.

Aber deswegen ist das Paper natürlich nicht völlig zu ignorieren. Es ist in der Tat manchmal erschreckend zu sehen, wie schnell und dauerhaft sich Irrtümer und absichtliche Täuschungen – siehe oben genannte Beispiele – in einer Gesellschaft implementieren lassen, wenn die implementierende Gruppe nur stur genug auf ihrer Position beharrt.

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Kommentare (13)

  1. #1 schnablo
    26. Juli 2011

    Monarchie oder Soziale Marktwirtschaft werden sich nicht durchsetzen, weil es eine entschlossene und unbeirrbare Mehrheit dagegen gibt (commited agents for opinon B). Ein Fall, der nicht im Paper betrachted wird. Und obwohl es keine echte Gleichstellung zwischen schwarz und weiss gibt, hat sich doch die Meinung durchgesetzt, dass es sie geben sollte oder nicht? Die Autoren fuehren dieses Bsp. deswegen auch als Beleg fuer die Relevanz ihrer Resultate an.

  2. #2 weyoun
    26. Juli 2011

    hmm,
    ich würde jetzt eher argumentieren das 10% eine art durchbruch darstellen, ab diesem wert nimmt die bekanntheit einer idee schnell zunimmt. vielleicht sollte in diese richtung geschaut werden

  3. #3 weyoun
    26. Juli 2011

    hmm,
    ich würde jetzt eher argumentieren das 10% eine art durchbruch darstellen, ab diesem wert nimmt die bekanntheit einer idee schnell zu. vielleicht sollte in diese richtung geschaut werden

  4. #4 michael
    26. Juli 2011

    Gibt es nicht auch in Zusammenhang mit größeren Menschenmassen die Beobachtung, dass es nur ein paar 100 entschlossener Menschen bedarf, um eine Menschenmasse in die gewünschte Richtung zu dirigieren?

    > Wie beispielsweise der in den USA scheinbar unverrückbare, wenngleich als Irrtum entlarvte Glaube ist, dass Steuersenkungen für Vielverdiener die Einnahmen des Fiskus steigern kann.

    Die würde ich für eine reine Schutzbehauptung halten, womit man seinen eigenen Besitz verteidigt. Solche Behauptungen halten sich, weil ein Großteil keine Lust hat sich darüber Gedanken zu machen und lieber die Ansicht übernimmt, die am lautesten vorgetragen wird.

  5. #5 Jürgen Schönstein
    26. Juli 2011

    @schnablo

    Monarchie oder Soziale Marktwirtschaft werden sich nicht durchsetzen, weil es eine entschlossene und unbeirrbare Mehrheit dagegen gibt (commited agents for opinon B). Ein Fall, der nicht im Paper betrachted wird.

    Eben. Genau deshalb habe ich die Beispiele zitiert. Und nein, wenn sich die Idee der Gleichstellung von Schwarz und Weiß “durchgesetzt” hätte, dann gäbe es die offensichtliche Diskrepanz zwischen den Lippenbekenntnissen und der Realität nicht mehr.

  6. #6 cydonia
    26. Juli 2011

    Ich erinnere mich an die Untersuchung von Arno Grün, die er nach dem 2ten Weltkrieg durchgeführt hat. Unter den deutschen Kriegsgefangenen, die er befragte, waren ca 20% überzeugte Nazis, ca 20% Regimeskeptiker und der Rest schwankte wie das Schilf im Wind. Diese Verteilung fand er übrigens auch in anderen Gesellschaften, wenn es beispielsweise um Rassismus ging. Zehn Prozent erscheint mir etwas zu niedrig, um durchschlagende Wirkung zu erzielen. Vielleicht geht es aber auch um so eine Art Starter, ein radikaler Sauerteig sozusagen. Da müssen noch ein paar gute Befragungen/Untersuchungen her, ehe ich die Simulation ernstnehmen kann.

  7. #7 Jürgen Schönstein
    26. Juli 2011

    @cydonia
    Ich würde auch erst mal ein paar empirische Studien sehen wollen, die diesen Ansatz überprüfen, ehe ich die quantitative Aussage akzpetieren möchte. Aber wie gesagt, selbst wenn es in der Realität eher 20 Prozent sind, die als “kritische Masse” genügen, um eine unaufhaltsame Reaktion auszulösen, wäre es doch eine ziemliche Ernüchterung für überzeugte Demokraten, die – wie ich – an die Überlegenheit der pluralistischen Meinungsbildung glauben wollen.

  8. #8 schnablo
    26. Juli 2011

    Genau deshalb habe ich die Beispiele zitiert.

    Ok, danke. Ich hatte den Artikel eher so verstanden, dass Sie sich im Modell eine Differenzierung hinsichtlich verschiedener Ideen (gemaess ihrer Ueberzeugungskraft) wuenschten, was sich aber im Rahmen des Modell durchaus als Szenarien mit variierenden Anfangsbedingungen approximieren liesse.

    wenn sich die Idee der Gleichstellung von Schwarz und Weiß “durchgesetzt” hätte, dann gäbe es die offensichtliche Diskrepanz zwischen den Lippenbekenntnissen und der Realität nicht mehr.

    Damit waere ich dann aber doch sehr vorsichtig. Es gibt unbestreitbar Unterschiede zwischen mancher Leute Aeusserungen und deren Handeln. Wahrscheinlich treten bei den meisten Menschen in irgendeinem Gebiet solche Zwiespalte auf. Aber zu behaupten, dass nur alle ueberzeugt sein muessten und dann wuerde sich alles zum Guten wenden, halte ich fuer naiv. Menschen sind keine rational agents und soziologische Mechanismen (auf beiden Seiten) koennen Veraenderungen behindern.
    Mein Eindruck ist ausserdem, dass die meisten Amerikaner tatsaechlich davon ueberzeugt sind, die Idee der Gleichberechtigung zu vertreten. Foerderprogramme und Transferleistungen werden dagegen abgelehnt. Mir scheint, dass die bestehende Ungleichheit zahlreiche Gruende hat und vorhandener Rassismus gehoert wahrscheinlich dazu. Ich wuerde ausgehend von den sozialen Verhaeltnissen jedoch nicht schliessen, dass ein Grossteil der US-Amerikaner Rassisten sind.

  9. #9 jitpleecheep
    26. Juli 2011

    Ich kenne zumindest zwei lustige Beispiele, die in diese Richtung gehen.

    Das erste ist “New Coke”, eingeführt in den 80ern. Da haben sie vorher Fokusgruppen durchgeführt, und überwiegend positive Meinungen erhalten. Sie hatten allerdings auch immer ungefähr 10% Leute in den Fokusgruppen, die derart radikal dagegen waren, dass sie auf die anderen Teilnehmer peer pressure ausgeübt haben. Die Fokusgruppen haben sie aber nicht so ernst genommen… und der Rest ist Geschichte: “Over 400,000 calls and letters were received by the company. A psychiatrist Coke hired to listen in on phone calls to the company hotline, 1-800-GET-COKE, told executives some people sounded as if they were discussing the death of a family member.” (WTF?!)
    https://secure.wikimedia.org/wikipedia/en/wiki/New_Coke#Backlash

    Eine andere lustige Studie muss ich hier komplett nacherzählen, weil ich sie grade nicht wiederfinde…:
    In Gruppen sollten Probanden die Länge von abgebildeten Linien mit einer Referenz vergleichen, und dann zusammen darüber abstimmen, welches der Testitems mit der Referenz übereinstimmt.
    In der Hälfte der Gruppen war mind. eine Person, die gebrieft war und vehement versuchen sollte, alle anderen von der falschen Lösung zu überzeugen.
    Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber es war eine erstaunlich hohe Anzahl an Gruppen, bei denen das funktioniert hat, und es kam auch raus, dass es ein Optimum von “Agitatoren” gab.

  10. #10 Jürgen Schönstein
    26. Juli 2011

    @schnablo
    Ich habe auch nicht geschlossen, dass die Mehrheit der Amerikaner Rassisten sind. Es ging mir um die Bedeutung des Wortes “durchgesetzt” – und das ist schon etwas stärker, als in einem Fragebogen mal “finde ich gut” anzukreuzen. Die Mehrheit der Amerikaner ist, wie ich vermute, dem Thema (weil sie damit halt, dank einer gewissen sozialen Sortierung, nicht täglich umgehen müssen) eher indifferent – in der Terminologie des Papers also AB, nicht A oder B. Endzustand des Modells ist aber “alle A” oder “alle B”.

    Generell ist meine Kritik (die, wie ich ja schon betont habe, nicht ablehnend ist, sondern nur davor warnt, das simulierte Resultat undifferenziert auf reale Verhältnisse zu übertragen) darauf begründet, dass das Paper a) nur ein binäres Meinungsmodell A oder B anlegt, was in der Realität praktisch nie der Fall ist, und b) die Alternativen A und B als symmetrisch ansieht, also beide als gleichermaßen überzeugend definiert. Auch das ist weit von der Realität entfernt; beide Annahmen zusammen führen dazu, dass die Entschlossenheit der Minderheit die einzige operationale Variable ist. Dass jener dann auch im Resultat ein großes Gewicht zukommt, ist also nicht wirklich überraschend – aber leider für die Realität nicht sehr hilfreich.

  11. #11 JB
    27. Juli 2011

    Jede Studie, ob empirisch oder Simulation, ist eine Abstraktion von der Wirklichkeit. Du hast schon recht, dass die Wirklichkeit komplexer ist als die Studie, das heißt aber nicht, dass die Ergebnisse nichts bedeuten. Aus meiner Erfahrung kann ich die Ergebnisse der Simulation bestätigen (ja, ich weiß, das ist kein Beweis).
    Menschen können manipuliert werden, das ist ja genau ein Problem der Demokratie, und ich halte es für wichtig, die Mechanismen und Bedingungen für Manipulation zu studieren (auch auf die Gefahr hin, dass diese Erkenntnisse zu weiteren Manipulationen missbraucht werden).
    Das Ergebnis so einer Studie oder Simulation zu verwerfen oder zu relativieren, nur weil einem das Ergebnis nicht passt, bringt jedenfalls nichts. Ich weiß, dass du nur sagst, dass das Ergebnis kritisch betrachtet und überprüft werden muss – das finde ich gut, deshalb lese ich dein Blog auch so gerne – ich möchte nur davor warnen, dem moralistischen Fehlschluss – “das kann nicht sein, weil es nicht sein darf” – zu unterliegen.

  12. #12 cydonia
    27. Juli 2011

    @JB
    Einverstanden! Und ich bin auch davon überzeugt, dass nicht nur Minderheiten, sondern auch Einzelpersonen in einer Demokratie eine enorme Machtfülle auf sich ziehen können, wenn sie die schwankende Mehrheit geschickt manipulieren indem sie z.B. Vorurteile ausnutzen. Der beste Schutz ist Bildung, Bildung und dann nochmal Bildung….in allen Bereichen. Anders sind echte demokratische Systeme wahrscheinlich nicht zu halten.

  13. #13 NWO-Agent
    28. Juli 2011

    @ jitpleecheep

    Eine andere lustige Studie muss ich hier komplett nacherzählen, weil ich sie grade nicht wiederfinde…:
    In Gruppen sollten Probanden die Länge von abgebildeten Linien mit einer Referenz vergleichen, und dann zusammen darüber abstimmen, welches der Testitems mit der Referenz übereinstimmt.
    In der Hälfte der Gruppen war mind. eine Person, die gebrieft war und vehement versuchen sollte, alle anderen von der falschen Lösung zu überzeugen.
    Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber es war eine erstaunlich hohe Anzahl an Gruppen, bei denen das funktioniert hat, und es kam auch raus, dass es ein Optimum von “Agitatoren” gab.

    Klingt nach dem Konformitätsexperiment von Asch.