Selbst wenn nicht ich an diesem Wochenende – auch für mich überraschend – wieder mal in meiner Wahlheimat New York City wäre, könnte ich es doch nicht übersehen, dass es heute genau zehn Jahre her ist, dass eine Gruppe religiöser Fanatiker vier Flugzeuge entführt und in selbst- und massenmörderische Marschflugkörper verwandelt hatte, und danach eine andere Gruppe, scheinbar nicht minder fanatisch, beschlossen hatte, dass dies nun die richtige Zeit für Kriege wäre und dafür, jeden Bürger als potenziellen Terroristen einzustufen. Vor allem, wenn sein Name oder seine Physiognomie irgend eine Verbindung zur Levante oder nach Nordafrika anzudeuten schien … Zehn Jahre. Sollte ja für einen ehrgeizigen Journalisten ein Anlass sein, sich mit einem besonderen Jubiläumsstück zu profilieren. Oder?
Ein ehemaliger Kollege (an dessen Namen ich mich nicht mal mehr erinnere) hatte diese Jubiläumsbezogenheit mal als “Kalenderjournalismus” abgetan. Und ich muss zugeben: Die Tatsache, dass wir uns kulturell vor langer Zeit auf ein dezimales Zahlensystem und einen Solarkalender verständigt hatten, was periodisch wiederkehrende Daten nach sich zieht, sollte nicht der einzige Grund sein, sich an ein Ereignis oder an Personen zu erinnern. Und was ich selbst an diesem Jahrestag (und fast an jedem Tag seit jenem Tag) empfinde, hatte ich hier schon mal geschildert. Was es – wenn man denn Kalenderjournalismus betreiben möchte – zehn Jahre nach dem 11. September 2001 zu sagen, denken und schreiben gibt, das haben andere, Berufenere schon getan: Die New York Times beispielsweise hat eine umfangreiche Serie dazu ins Netz gestellt (besonders interessant fand ich den Teil über die 3,3 Billionen Dollar an Folgekosten, die durch die 9/11-Reaktion der US-Regierung verursacht wurden – und die, in gewisser Weise, das eigentliche Ziel Bin Ladens, den wirtschaftlichen Kollaps der Supermacht, beinahe (?) herbei geführt hätten); der Council on Foreign Relations hat sich hier mit der Frage befasst, welche Lektionen wir aus dem 11.9.2001 gezogen und gelernt haben; zu den absurden Verschwörungstheorien (die Betonung liegt auf “absurd” – denn in der Tat gab es ja eine Verschwörung: etwa 20 Täter und eine nicht mehr genau zu bestimmende Anzahl von Helfern und Mitwissern, die diese Aktion lange geplant und organisiert hatten, sind eine Verschwörung), die seither nicht mehr aus der Welt zu schaffen sind, hat sich mein Bloggerkollege Ali Arbia hier schon Gedanken gemacht (und ich selbst auch, aber ich wollte ja eigentlich nur auf die Berufeneren = Kompetenteren verweisen).
Soll ich mich darüber ärgern, dass sich nun ausgerechnet zum Jahrestag eines durch religiösen Fanatismus geprägten Verbrechens wieder die religiös “Übermotivierten” (ein noch vorsichtigeres Wort fällt mir nun wirklich nicht mehr ein) aufblähen, weil ihre sakralen Rituale bei der offiziellen New Yorker Gedenkfeier nicht gefragt sind? Nö, wär’ doch schade um das schöne Adrenalin, das kann ich im New Yorker Stadtverkehr viel besser gebrauchen …
Wenn ich versuche zu erinnern, was mich von all dem, was am und nach dem 11. September 2001 geschah, am tiefsten bewegt oder verstört hat, dann fällt mir zuerst diese Anekdote ein: Es war etwa eine Woche, maximal vielleicht zehn Tage nach den Anschlägen, und ich stand, ganz wieder in der Normalität verankert, auf dem Bahnsteig der New Yorker Subway, um ins Büro zu fahren. Zwei junge, nordafrikanisch aussehnde Männer standen etwa in Hörweite neben mir, und sie unterhielten sich in einer Sprache, die Arabisch hätte sein können (ich selbst spreche kein Arabisch). Als sie mit ihren längst aus der Mode gekommenen Diplomatenköfferchen in den gleichen U-Bahnwaggon einstiegen, fühlte ich mein Herz heftiger schlagen, und Anflüge von Panik schwadeten durch meine Gedanken. Eine Station später stiegen sie, zu meiner Erleichterung aus, und auch mein Verstand kam wieder aus dem Nebel hervor. Ich habe mich seither noch sehr oft dafür geschämt …
Foto: Andrea Booher/ FEMA News Photo [Public domain], via Wikimedia Commons
Kommentare (5)