In den kommenden Tagen wird in Italien der Prozess gegen sieben führende Geophysiker beginnen, die im Zusammenhang mit dem verheerenden Erdbeben vom 6. April 2009 wegen Totschlags angeklagt wurden. Vor allem in der wissenschaftlichen Gemeinde ist die Empörung groß, dass hier sieben renommierte Forscher dafür belangt werden sollen, weil sie ein Erdbeben nicht korrekt vorher gesagt hatten – was, nach dem heutigen Stand der Wissenschaft, schlichtweg nicht möglich wäre. Doch so, wie ich in dem Artikel

At fault

gelesen habe, der in Nature erscheint, sieht der Sachverhalt doch ein kleines bisschen anders aus: Den Wissenschaftlern wird nicht (zumindest nicht direkt) vorgeworfen, das Erdbeben nicht korrekt vorher gesagt zu haben, sondern das Risiko so weit herunter gespielt zu haben, dass sich die Betroffenen in falscher Sicherheit wähnten; mit der Folge, dass sie auf ihre traditionellen Vorsorgemaßnahmen (die Region um L’Aquila ist ein bekanntes Erdbebengebiet) verzichteten.

I know they can’t predict earthquakes. The basis of the charges is not that they didn’t predict the earthquake

wird in dem Artikel der zuständige Staatsanwalt, Fabio Picuti, zitiert. Doch die Wissenschaftler hätten – auch wenn sie wussten, dass Erdbebenvorhersagen eine 98-prozentige Fehlerquote haben – die Öffentlichkeit über dieses Risiko, unter Berücksichtigung der potenziellen Folgen, besser informieren müssen. Was sie, nach Auffassung des Staatsanwalts, sträflich versäumt hätten.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Das macht die Anklage, in meinen Augen, nicht viel sinnvoller. Denn ob die Öffentlichkeit diese Risikoeinschätzung begriffen hätte, steht noch auf einem ganz anderen Blatt. Und Totschlag? Selbst im schlimmsten Fall könnte man den Angeklagten “nur” Fahrlässigkeit vorwerfen.

Aber in jedem Fall wird der Prozess neu definieren, was die Verantwortlichkeit der Wissenschaft sein sollte. Und ja, so wie es aussieht, sollte man vielleicht in Zukunft lieber zu viel als zu wenig warnen. Was, ironischer Weise, den Wissenschaftlern in Klimafragen zum Beispiel gerade vorgeworfen wird.

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Kommentare (9)

  1. #1 Barton Fink
    15. September 2011

    Moment,
    müsste hier nicht eher der Herr Termin angeklagt werden?

  2. #2 Polygon
    15. September 2011

    Wird zuviel gewarnt, glaubt kein Mensch mehr dem Warnenden. Irgendwie lächerlich ist die Anklage schon, aber mal abwarten, was dabei rauskommt. Nicht, dass ich mich umsonst aufrege.

  3. #3 Jörg
    15. September 2011

    Naja, wenn man den Artikel liest wird klar, dass die lokalen Politiker eine Risikokommitees-Ssitzung missbraucht haben, um nachfolgend die Öffentlichkeit mit falsch zitierten oder selektiv zitierten Aussagen über Gebühr zu beunruhigen. Was sollen die Wissenschaftler machen, durch L’Aquila spazieren und nachforschen wieviel von ihren Aussagen bei der Bevölkerung angekommen ist? Nettes Filmszenario, aber völlig unrealistisch…

  4. #4 Jörg
    15. September 2011

    Über Gebühr zu beruhigen, meine ich natürlich.

  5. #5 Dr. Webbaer
    15. September 2011

    (…) dass Erdbebenvorhersagen eine 98-prozentige Fehlerquote haben (…)

    Also ca. 2% der Vorhersagen treffen ein, bemerkenswert! – Gar keine schlechte Quote, Vorhersagen “per Zufall” erreichen diesbezüglich wohl nie den Promillebereich.

    Ansonsten ist Jörg zuzustimmen, es liegt hier ganz anscheinend ein politisches Problem vor und solche Klagen sind abzuweisen.

    MFG
    Dr. Webbaer

  6. #6 Jörg
    15. September 2011

    Also ca. 2% der Vorhersagen treffen ein, bemerkenswert! – Gar keine schlechte Quote, Vorhersagen “per Zufall” erreichen diesbezüglich wohl nie den Promillebereich.

    Wenn man kaum bis drei zählen kann sollte man sich von Statistik fernhalten.
    Ich werf mal ne Münze und sag zufällig das Ergebnis voraus – wie ist wohl meine Vorhersagechance??

  7. #7 Dr. Webbaer
    15. September 2011

    Ich werf mal ne Münze und sag zufällig das Ergebnis voraus – wie ist wohl meine Vorhersagechance??

    Bei bestimmter hier anscheinend von dir unterstellter Parametrisierung 50%. – Aber du hast recht, die Statistik ist so eine Sache. Man vergleicht idR das gemessene Ergebnis mit dem Ergebnis, das durch nackten Zufall entstanden sein könnte.

    So könnte man z.B. das zehnfache Fallen der Münze “auf Zahl” bei zehn Versuchen messen und im Vergleich dazu die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Ergebnis rein zufällig auftritt (ca. 1 Promille) und dann willkürlich der Aussage “Das war kein Zufall!” [1] Signifikanz beimessen.

    Man “springt” also zumindest zweimal, einmal bei der Theoretisierung und zum Zweiten bei der Feststellung der Signifikanz. – Kenntnisse zur Statistik/Stochastik sind das A und O bei der Interpretation von Messergebnissen. – Insofern sind die 2% wirklich nicht schlecht. 🙂

    HTH
    Dr. Webbaer

    [1] Mutmaßungen: Münze hat bestimmte physikalische Eigenschaften, Magnetismus im Spiel etc.

  8. #8 Sven Türpe
    16. September 2011

    Ich werf mal ne Münze und sag zufällig das Ergebnis voraus – wie ist wohl meine Vorhersagechance??

    Das hängt unter anderem davon ab, wie oft Du die Münze wirfst, wie spezifisch Deine Voraussage ist und aus welchem Raum möglicher Voraussagen Du zufällig wählst.

  9. #9 Dr. Webbaer
    16. September 2011

    Exakt, die Münze sollte schon zweiseitig sein, und die Vorhersage angemessen theoretisiert, also zwei Ergebnisse zulassend und auch den gewünschten oder erwarteten Zufall genau beschreibend.

    Statistik + Stochastik sind eine Kunst. – Ein Kumpel von Dr. W, Biologe bzw. Nanotechnologe, meint, dass regelmäßig in Studien dbzgl. schwere Fehler gemacht werden. Dr. W, der hier u.a. das Cubing meint, kann auch von dbzgl. Desastern in der Wirtschaft berichten. – Hoffen wir, dass Jörg dbzgl. fit genug ist; das Potential ist ja da.

    MFG
    Dr. Webbaer