Wissenschaftler und Menschen sprechen nicht die gleiche Sprache.
Das Zitat ist von mir (eben erfunden), und es soll eigentlich nur ein bisschen Aufmerksamkeit provozieren. Und wenn Sie ab jetzt noch weiter lesen, dann ist mir das auch gelungen. Selbstverständlich sind alle Wissenschaftler Menschen, aber sie denken und reden eben nicht wie gewöhnliche Menschen. Dies wird beispielsweise an dem Prozess, der nach der formalen Eröffnung an diesem Dienstag (20.9.) ab der kommenden Woche (1.10.) in L’Aquila gegen sieben Mitglieder der italienischen Commissione Nazionale dei Grandi Rischi, einer Art Katastrophenfrühwarn-Kommission, geführt wird, auf geradezu tragische Weise deutlich.
(Da ich geographisch viel zu weit von L’Aquila entfernt bin, muss ich mich bei meiner “Beobachtung” auf Sekundärquellen = Medien berufen; ich stütze mich in meinen Betrachtungen vor allem auf Berichte der BBC und in nature).
Erst mal ein paar theoretische Überlegungen zum unterschiedlichen Sprachgebrauch von Wissenschaftlern und Alltagsmenschen: Es geht hier nicht um den oft noch altphilologisch geprägten Jargon oder die Fachterminologie, durch die sich “wissenschaftliche” Diktion (<= q.e.d.) auszeichnet (was oft weniger eine Notwendigkeit als vielmehr das Bestreben nach einer Sprache ist, die sich bewusst vom Alltagssprachgebrauch abhebt). Sondern um etwas, was ich mal als ansatzweise als eine intellektuelle Superposition bezeichnen will, analog zur Superposition in der Quantenmechanik. Damit meine ich die Fähigkeit – die absolut notwendige Fähigkeit – eines Wissenschaftlers, sich vorzustellen, dass ein Ereignis gleichzeitig stattfindet und nicht stattfindet.
Hä? Gemeint ist, dass wenn Wissenschaftler von Wahrscheinlichkeiten sprechen, sie damit ausdrücken wollen, dass ein Ereignis sowohl möglich (sagen wir mal, mit einer Eintreffenswahrscheinlichkeit von 98 Prozent) als auch nicht möglich (in diesem Fall dann 2 Prozent) ist. Beide Zustände bestehen nebeneinander; erst wenn der Ereignisfall eintritt, “kollabiert” diese Superposition in den realen Zustand: Entweder es knallt, oder es knallt nicht. Wissenschaftler werden jetzt vermutlich sagen, “Ja und? Es gibt nun mal keine 100-prozentige Gewissheiten, und jede “Gewissheit” ist immer nur eine relative Wahrscheinlichkeit.” Und wenn die Wahrscheinlichkeit hoch genug ist, dann kann man wissenschaftlich davon ausgehen, dass ein Ereignis eintritt – aber die Alternative, also das Nicht-Eintreffen, gehört für sie immer noch zur Menge der realen Ereignisse.
Diese Betrachtung, die ich hier anstelle, ist übrigens keine wissenschaftliche, sondern eine ganz subjektive, die sich aber aus vielen Einzeldialogen, hier in den ScienceBlogs, wie auch mit WissenschaftlerInnen persönlich, entwickelt hat.
Der Durchschnittsmensch sieht dies aber meist anders: Entweder ein Ereignis tritt ein, oder es tritt nicht ein. Und auch ein zweiprozentiges Risiko wäre da noch ein “tritt ein”-Fall – nur hunderprozentig Ausgeschlossenes gilt als ausgeschlossen. Auch ein kleines Risiko ist noch ein Risiko. Und darüber, wie sich die Risikoabschätzungen von Wissenschaftlern und Durchschnittsbürgern unterscheiden, wurde allein in meinem Blog schon ebenso ausführlich wie ergebnislos (wenn man als Ergebnis den Konsens ansehen will) diskutiert.
Und was hat das nun mit dem Prozess in L’Aquila zu tun? Die sieben Kommisionsmitglieder, darunter sechs der führenden italienischen Geophysiker, wurden wegen Totschlags angeklagt, weil bei einem schweren Erdbeben (Stärke 6,3) am 6. April 2009 insgesamt 300 Menschen ums Leben gekommen waren. Wie ich schon mal geschrieben habe, wird den Angeklagten übrigens nicht – wie weithin zu lesen ist – zum Vorwurf gemacht, dass sie das Erdbeben nicht vorhergesagt hatten. Vielmehr wird ihnen die Schuld daran gegeben, dass sie durch ihre Analyse der Vorbeben die Gefahr als gering eingestuft und die Öffentlichkeit daher in falscher Sicherheit gewiegt hätten.
Was hatten die Wissenschaftler also gesagt? Aus einem Sitzungsprotokoll vom 31. März 2009 geht offenbar hervor, dass die Wissenschaftler (im Folgenden zitiert werden: Enzo Boschi, früherer Präsident des Istituto Nazionale di Geofisica e Vulcanologia; Giulio Selvaggi, Leiter des Erdbebenzentrums Centro Nazionale Terremoti; der Geophysiker und Seismologe Claudio Eva; sowie Professor Franco Barberi, Vorsitzender der Commissione Nazionale dei Grandi Rischi) ein akutes Erdbeben aufgrund der Spannungsentlastung durch zahlreiche Vorbeben zwar für nicht wahrscheinlich gehalten hatten, es aber dennoch nicht ausschließen konnten:
The minutes of the 31 March meeting, though, reveal that at no point did any of the scientists say that there was “no danger” of a big quake. “A major earthquake in the area is unlikely but cannot be ruled out,” Boschi said. Selvaggi is quoted as saying that “in recent times some recent earthquakes have been preceded by minor shocks days or weeks beforehand, but on the other hand many seismic swarms did not result in a major event”. Eva added that “because L’Aquila is in a high-risk zone it is impossible to say with certainty that there will be no large earthquake”. Summing up the meeting, Barberi said, “there is no reason to believe that a swarm of minor events is a sure predictor of a major shock”.
Wissenschaftlich gesehen ist alles klar: Aus den Schwarmbeben ist nur mit geringer Wahrscheinlichkeit ein konkretes Erdbebenrisiko abzuleiten, doch dieses Restrisiko ist vorhanden. In der politischen “Übersetzung” durch den einzigen Nicht-Geophysiker der Kommission, Bernardi De Bernardinis (ehemaliger Vizepräsident des italienischen Zivilschutzes), wurde daraus, laut nature:
“The scientific community tells me there is no danger … because there is an ongoing discharge of energy. The situation looks favourable.”
Zu deutsch: Keine Gefahr. Kann man dafür den Wissenschaftlern die Schuld geben? Hier bin ich versucht zu sagen: Man kann, zumindest ein bisschen. Dies waren keine Geowissenschaftler, die von einer schnellen Telefomumfrage einer Zeitung überrascht wurden oder die zu naiv waren um zu erkennen, wozu ihre Analyse dienen sollte. Als Mitglieder einer politisch konstitutierten Kommission hätten die Geophysiker sich bewusst sein müssen, dass der Politiker De Bernardis – und mit ihm all die Lokalpolitiker in den Abbruzzen, die nun ihre Köpfe fordern – ihre differenzierten Argumente auf ein “Daumen runter” oder “Daumen hoch”-Signal reduzieren würde.
Wie hier in den ScienceBlogs auch immer wieder betont wird: Eine wissenschaftliche Prognose ist keine Zukunftsvorhersage, keine Hellseherei, sondern nur eine Abschätzung, welche der – weiterhin als real möglich eingeschätzten – Fälle mit der größten Wahrscheinlichkeit eintritt. Und diese Prognose wäre selbst dann noch richtig (im Sinn von: belegbar und mit den wissenschaftlichen Fakten vereinbar), wenn dieser wahrscheinlichste Fall dann doch nicht zutrifft, sondern eine der verbliebenen Varianten. Aber selbst Wissenschaftler – oder solche, die sich mit wissenschaftlichem Denken identifizieren – neigen manchmal dazu, dies zu verwechseln. Ich erinnere hier nur an einschlägige Diskussionen über Vorsorgemedizin, Radhelme, Wahlverhalten oder Lottospielen… Insofern ist auch De Bernardis’ Übersetzungsfehler erklärbar, wenn auch – bei einem Problem dieser Tragweite – nicht unbedingt entschuldbar. Aber ist das gleichwertig mit Totschlag? Wohl kaum.
Es gibt übrigens noch einen ganz praktischen Haken an dem Verfahren, den ich hier aber nur am Rande (und quasi als Fußnote) erwähnen möchte: Die Kläger – darunter neben der Staatsanwaltschaft auch Angehörige der Todesopfer – begründen die Anklage damit, dass dadurch erreicht werden soll, dass Wissenschaftler in Zukunft bessere Vorhersagen machen. Wie das gehen soll, ist mir allerdings ein Rätsel: Wenn ein – bei Erdbeben oder Stürmen immer möglicher – Irrtum die Wissenschaftler für 15 Jahre hinter Gitter bringen kann, dann wird damit nur erreicht, dass sich niemand mehr mit solchen Frühwarnfragen befassen will. Und statt besserer Erdbebenwarnung gibt es dann, aller Wahrscheinlichkeit nach, gar keine …
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