Manchmal bleiben mir ein paar aufgeschnappte Worte oder Sätze im Gedächtnis haften. Fast wie Kaugummi unter der Schuhsohle: ungewollt, eher lästig, und ständig bleiben dann auch noch irgendwelche anderen Gedanken daran hängen. Manchmal fallen sie dann doch wieder ab – aber manchmal fängt dieser “Gedankenkleber” an, sich zu etwas zu verdichten, was dann schon fast so etwas wie eine Idee sein könnte. In diesen Tagen waren der Hirnkaugummis gleich zweie: zum einen die Information, die ich bei Ulrich Bergers Kritisch gedacht gelesen hatte, dass Steve Jobs statt einer sofortigen (und möglicher Weise erfolgreichen) Operation nach seiner Bauchspeicheldrüsenkrebs-Diagnose erst mal ein Dreivierteljahr lang versucht habe, seinen Krebs mit einer “Heildiät” unter Kontrolle zu bekommen. Zum zweiten die Debatte um das so genannte PSA-Screening, das nun nicht mehr von der Vorsorge-Taskforce des US-Gesundheitsministeriums empfohlen wird. Die Debatte darum hatte ich hier schon mal aufgegriffen (und sie wird mir später sicher einen weiteren Beitrag wert sein), doch der Gedanke, der sich in meinem Kopf festklebte, entstammt diesem Beitrag in der New York Times vom vergangenen Freitag:
Not knowing what is going on with one’s prostate may be the best course, since few men live happily with the knowledge that one of their organs is cancerous. Autopsy studies show that a third of men ages 40 to 60 have prostate cancer, a share that grows to three-fourths after age 85.
Was haben die beiden Dinge miteinander zu tun – abgesehen davon, dass es sich beide Male um Krebsgeschichten handelt? Auf den ersten Blick gar nicht so viel. Aber dann dämmerte mir, dass es hier um eine sehr grundsätzliches Frage geht: Gibt es so etwas wie ein Recht auf Wissen in der Medizin, und folgert daraus auch umgekehrt eine Pflicht der Behandlung – und wie lässt sich das mit dem Recht auf freien Willen vereinbaren?
Bleiben wir bei dem Beispiel Steve Jobs, wie es von Ulrich (hier noch einmal der Link) beschrieben wurde. Der Umstand, dass ein Mann vom geistigen Kaliber des Apple-Machers sich auf so etwas pseudomedizinisches wie eine Heildiät einlassen konnte, wurde zumeist mit einer Mischung aus Unverständnis und sogar Missbilligung kommentiert. Aus wissenschaftlich-medizinischer Sicht vermutlich nachvollziehbar – aber wie sieht’s mit der Sichtweise von Steve Jobs aus? Die kenne ich natürlich ebenso wenig wie alle anderen hier, aber da sich all diese Betrachtungen sowieso nur im Bereich des Spekulativen abspielen können, werde ich auch mal mit solchen Möglichkeiten spielen:
Vielleicht hatte er – und das ist zumindest nicht unvereinbar mit dem, was man über Jobs Charakter lesen konnte – erst mal ein wichtigeres Projekt, das er nicht wegen einer Operation verschieben wollte. Wie, ein iPhone (oder was auch immer) soll wichtiger sein als das Leben und die Gesundheit? Viele Menschen sind bereit, für etwas ihr Leben zu riskieren, das anderen noch nicht mal ansatzweise erstrebenswert scheint. Warum setzen Bergsteiger Leben und Gesundheit aufs Spiel, um irgendwelche massiven mineralischen Megakonkretionen hochzuklettern? Was treibt Fallschirmspringer und Drachenflieger in die Luft? Warum setzt sich jemand in München aufs Fahrrad?
Aber damit keine Missverständnisse entstehen: Ich will hier nicht Steve Jobs’ Entscheidung(en) erklären oder gar rechtfertigen. Aber es waren, so weit ich es beurteilen kann, seine Entscheidungen. Dass er sich der Tödlichkeit des Krebses bewusst war, darf man getrost annehmen – wenn er sich trotzdem gegen eine Operation entschied, oder sich zumindest für einen späteren (= riskanteren) Termin entschied, dann fiel das wohl erst mal unter das Recht, über sich und den eigenen Körper selbst zu bestimmen. Dies ist, zugegeben, ein vergleichsweise junges Recht, und in einigen Organisationen (mir fiele hier zum Beispiel eine bestimmte religiöse Körperschaft mit Hauptsitz in Rom ein, die mitbestimmen will, wer mit wem unter welchen Umständen welche Art von körperlichen Kontakten haben darf) wird es bis heute noch nicht wirklich anerkannt. Ich könnte für meinen Teil ganz ehrlich nicht vorhersagen, ob ich mich in so einem Fall für eine Operation entscheiden würde – schon gar nicht, falls ich damit eine sehr begrenzte Heilungschance gegen den Verlust kostbarer Kontrolle über mein Leben eintausche … Aus sehr naher, persönlicher Anschauung weiß ich halt leider, dass es mit der medizinischen Lebensrettung nicht getan ist, wenn das gerettete Leben dann in seiner Gebrechlichkeit und Qual nicht mehr als lebenswert empfunden werden kann. Es gibt Schicksale, die empfände ich jedenfalls schlimmer als den Tod.
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