Und gerade dieses Recht auf den freien Willen, das Mitbestimmungsrecht über das eigene Leben und den eigenen Körper ist ja ein Argument, das im Rahmen der ScienceBlogs und ihrer Kommentare gegen Pseudomedizin vorgebracht wird, die ja selbst im besten Fall nur den Placeboeffekt nutzen kann, der wiederum auf einer Täuschung der Patienten beruht. Aber wie lässt sich das mit dem eingangs zitierten Statement aus der New York Times (die diese Sichtweise ja auch nur bei den Fachleuten eingesammelt hat) vereinbaren, dass in manchen Fällen – hier: Prostatatkrebs – das Unwissen des Patienten der “gesündeste” Weg wäre? Um dies zu erreichen, müssten Ärzte in jedem Fall lügen: Entweder, sie verschweigen dem Patienten (ich bleibe, da es im konkreten Beispiel um Prostatakrebs geht, bei der männlichen Form – zumindest so lange, bis Prostatakrebs in signifikanter Form auch bei Frauen auftritt), dass er eine hohe Wahrscheinlichkeit hat, Karzinome in seiner Vorsteherdrüse zu entwickeln, die sich durch Vorsorgediagnostik eindeutig feststellen ließen – oder er/sie täuscht dann den Patienten über die Resultate dieser Untersuchung. Beides sehr klare Formen der Unehrlichkeit, die – wenn ich den Kommentaren zum Thema Placebo hier folgen darf – grundsätzlich ob ihrer zerstörerischen Wirkung auf das Vertrauensverhältnis abzulehnen sei.
Auch die scheinbar naheliegendste Alternative, den Patienten über Risiken und Tests aufzuklären und ihm dann hinterher dennoch von einer Operation abzuraten, hülfe dem Patienten wenig: Zu wissen, dass ein Krebs – der sich ja “nur” in manchen Fällen so langsam entwickelt, dass er seine Gefährlichkeit gar nicht mehr zu Lebzeiten des Patienten ausspielen kann – im eigenen Körper wuchert, der schon so viele Menschenleben auf dem Gewissen hat, und ihn dennoch zu ignorieren … nein, diese selbstgewisse Gelassenheit besäße wohl nur ein Mann mit dem XXL-Ego eines Steve Jobs, wenn überhaupt.
Dieses ärztliche Dilemma, das sich hier wie ein absoluter Extremfall abzeichnet, ist vermutlich gar nicht mal so selten, wie man hoffen möchte. Wenn ich mich in meinem näheren Personenkreis umschaue (mit meinem geistigen Auge, versteht sich), dann tauchen bestimmt ein oder zwei Fälle auf, in denen dem Patienten/der Patientin mit Unwissenheit am besten geholfen werden kann. Nehmen wir mal eine Frau (die ist jetzt rein hypothetisch, aber auf realen Beobachtungen diverser Personen beruhend), die seit Jahren mit Bauchspeicheldrüsenkrebs kämpfte, ihn sogar schon überwunden glaubt und nun feststellen musste, dass der Krebs zurück gekehrt ist. Was sie nicht weiß: Der Krebs ist so stark in ihrem Körper metastasiert, dass an eine Heilung nicht mehr zu denken ist. Doch gerade diese Hoffnung ist das einzige, was sie noch aufrecht erhält. Aber mehr als ein halbes, vielleicht ein Jahr bleiben ihr nicht.
Nun denken wir mal die Alternativen durch, die sich den Ärzten hier bieten: Plan A ist die ungeschminkte Wahrheit. Diese würde der Patientin allerdings den letzten Lebensmut rauben – dieses “Todesurteil” wäre gleichbedeutend mit dem Ende ihres Lebens, von dem ihr nur noch das Warten auf den Tod bleibt. Plan B ist, der Patientin nicht die volle Wahrheit zu sagen, um ihr nicht den letzten Rest an Lebensfreude zu rauben. Die Chemotherapie wird fortgesetzt (und vielleicht sogar verstärkt, um so viele zusätzliche Lebenstage herauszuholen wie nur möglich) – allerdings um den Preis, dass sie von den Nebenwirkungen so geschwächt ist, dass sie ihre Tage bettlägerig verbringen muss. Plan C ist ähnlich wie Plan B, nur mit dem Unterschied, dass statt der Chemotherapie (die sowieso nichts mehr ausrichten kann) nur noch palliativ behandelt wird, um die Lebensqualität der Kranken zu steigern. Das wiederum birgt das Problem, dass die der Ehrlichkeit geschuldete Aufklärung über die Behandlungsumstellung (wir reden ja immer noch davon, dass der Arzt zu größtmöglicher Wahrheit verpflichtet ist) geradezu zwangsläufig die Hoffnungslosigkeit ihrer Krebsprognose entlarven würde. Plan D hingegen wäre von größter Unaufrichtigkeit: Die Patientin wird nicht über die niederschmetternde Prognose informiert (wohl aber ihre nächsten Angehörigen, die dies ausdrücklich so wünschen), sie wird auch über die veränderte Therapie im Unklaren gelassen. Doch dies hat zur Folge, dass sie ihren Optimismus behält, dank der ausbleibenden Chemotherapie-Nebenwirkungen sogar wieder so etwas wie Unternehmungslust entwickelt und die folgenden neun Monate, die ihr noch bleiben (wir betrachten diesen hypothetischen Fall nun aus der Rückschau und wissen, dass ihr nur noch ein Dreivierteljahr verblieben war), mit ihrer Familie genießen kann.
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