Die Überschrift ist ein Schlusswort, und dieser Beitrag selbst primär ein Lesetipp: In seinem Artikel The Broken Contract, der in der Zeitschrift Foreign Affairs erschienen ist, analysiert der Journalist George Packer, der sonst für den New Yorker schreibt, die Ursachen und Folgen der seit mehr als drei Jahrzehnten stetig verschärften sozialen Ungleichheit in Amerika. Ob es ein brilliante Analyse oder eine neiderfüllte Klageschrift ist, mag ja von den politischen Überzeugen des/der Lesenden abhängen – aber unbestreitbar ist, dass diese Ungleichheit existiert, und dass sie zum Kernproblem der amerikanischen und (man erinnere sich an die Finanzkrise ab 2008) der globalen Politik geworden ist.
Ein paar Zahlen aus dem Artikel als Beleg dafür: In den 70-er Jahren verdienten die Vorstände eines durchschnittlichen amerikanischen Großunternehmens etwa das 40-fache dessen, was dem einfachsten Arbeiter in der gleichen Firma gezahlt wurde – im Jahr 2007 hatte sich dieses Missverhältnis auf das 400-fache ausgedehnt. (Zwischen 1979 und 2006 kletterte das inflationsbereinigte Durchschnittseinkommen eines mittelständischen US-Haushalts um 21 Prozent; in den unteren Einkommensschichten nur um elf Prozent. Doch das oberste Prozent der Einkommenshierarchie sah sein Einkommen und 256 Prozent wachsen; der Anteil dieser kleinen Gruppe von Superverdienern am Volkseinkommen verdreifachte sich und erreichte fast ein Viertel.) Unternehmen empfanden noch so etwas wie eine gesellschaftliche Verantwortung (der Council on Foreign Relations, der das Magazin Foreign Affairs herausgibt, wurde beispielsweise 1921 von amerikanischen Unternehmern zum Zweck der Verbesserung internationaler Beziehungen – also nicht nur zu ihrem eigenen Nutzen – gegründet); die Politik war keine Politik, die sich den Sonderinteressen einzelner Gruippen verpflichtet fühlte – “Richard Nixon war ein heimlicher Liberaler, und heute würde er weit links von Olympia Snowe, einer moderaten Republikanerin, stehen”.
Klingt alles ein bisschen nostalgisch verklärt, so als ob früher halt einfach alles besser gewesen sei. Aber “Nostalgie ist ein nutzloses Gefühl”, meint Packer selbst. Denn natürlich gab es Mängel, Missstände … und Nylonhemden. Doch die wirkliche Tragik ist, dass die Mittel, mit denen sich der Mittelstand ins Aus bugsiert hat, sich ausgerechnet aus Bemühungen um mehr sozialen Ausgleich entwickelt hatten: Es waren die “McGovernisten und Watergate-Reformer”, die durch eine Öffnung des Wahlsystems eine Verschiebung, weg von den etablierten Buddysystemen der Parteikader und hin zu einer offenen Demokratie, mit mehr Beteiligung der Basis, erreichen wollten. Mit dem Resultat, dass “die Parteien ihre Geschlossenheit und ihren Einfluss verloren, sie wurden von einer neuen Art der Graswurzelpolitik überholt, die durch Direktwerbung gefördert wurde, sich speziellen Interessengruppen verpflichtet fühlten und durch Lobbys finanziert wurden. Die Wählerschaft wandelte sich von Koalitionen verschiedener Blöcke – Arbeitnehmervertreter, Mittestandsunternehmer, landwirtschaftliche Wähler – zu einer atomisierten Nation von Fernsehzuschauern.”
Wahlkampf war nurmehr vor allem eine Herausforderung, Geld aufzutreiben – und dies verlieh dem “organisierten Geld” mehr Macht und Einfluss. Statt mehr Demokratie gab’s eher weniger, und dieser Trend kristallisierte sich in Packers Darstellung unter der Carter-Regierung, im Jahr 1978. Drei Gesetzesentwürfe, die eine Verbraucherschutzbehörde einführen die Kapitalertragssteuer erhöhen und die Arbeitnehmerrechte (vor allem das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren) stärken sollten, wurden – nach massivem Lobbyeinsatz – trotz einer demokratischen Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses abgeschmettert. Um den Preis, dass diese Geister des organisierten Geldes das System nicht mehr loslassen wollen. Oder, wie der damalige Senator und spätere republikanische Präsidentschaftskandidat Bob Dole, ganz ohne jegliche Ironie, spätestens 1982 erkannte: “Arme Leute geben keine Wahlspenden.”
Nicht, dass die USA insgesamt seither verarmt wären – im Gegenteil: Eine Wall-Street-Firma habe sich, so schreibt Packer, im vergangenen Jahr für 300 Millionen Dollar das Verlegen einer Glasfaserleitung zwischen der Chicago Mercantile Exchange und der New York Stock Exchange geleistet, durch die hochautomatisierte Geschäfte nun um drei Millisekunden schneller abgewickelt werden können. Doch die Eisenbahnen zwischen Chicago und New York liefen heute nicht schneller als in den 50-er Jahren. Dies sei charakteristisch für die gesamte physische und politische Infrastruktur:
We have all the information in the universe at our fingertips, while our most basic problems go unsolved year after year: climate change, income inequality, wage stagnation, national debt, immigration, falling educational achievement, deteriorating infrastructure, declining news standards. All around, we see dazzling technological change, but no progress.
Wir haben all die Informationen des Universums in unserer Hand, während unsere grundlegendsten Probleme Jahr für Jahr ungelöst bleiben: Klimawandel, Einkommensungerechtigkeit, stagnierende Löhne, Staatsverschuldung, Einwanderung, fallende schulische Leistungen, zerfallende Infrastruktur, Verfall der journalistischen Standards. Um uns herum sehen wir glitzernden technologischen Wandel, aber keinen Fortschritt.
Das ausgerechnet diese gesellschaftliche Zersplitterung in (mächtige) Interessengruppen (Eigeninteressengruppen, um genau zu sein) und ohnmächtige Massen eine Folge der Bemühungen sein konnte, die Partizipation am politischen Geschehen von den Eliten weg und auf die Allgemeinheit hin zu verlagern, sieht Packer als die “perversen Effekte der Demokratisierung”. Statt mehr Gleichheit brachte sie mehr Ungleichheit, in der sich über Jahrzehnte hinweg das Geld – und damit die Macht – immer stärker in immer wenigen Händen konzentrierte. Diese Ungleichheit sei “wie ein geruchloses Gas, das jeden Winkel der Vereinigten Staaten durchdringt und die Demokratie des Landes ihrer Kraft beraubt”. Sie sei die Wurzel aller Übel, die Amerika heute plagen:
Inequality makes it harder to imagine the lives of others — which is one reason why the fate of over 14 million more or less permanently unemployed Americans leaves so little impression in the country’s political and media capitals. Inequality corrodes trust among fellow citizens, making it seem as if the game is rigged. Inequality provokes a generalized anger that finds targets where it can — immigrants, foreign countries, American elites, government in all forms — and it rewards demagogues while discrediting reformers. Inequality saps the will to conceive of ambitious solutions to large collective problems, because those problems no longer seem very collective. Inequality undermines democracy.
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