Nichts kann je aus dem Nichts entstehn durch göttliche Schöpfung.
Denn nur darum beherrschet die Furcht die Sterblichen alle,
Weil sie am Himmel und hier auf Erden gar vieles geschehen
Sehen, von dem sie den Grund durchaus nicht zu fassen vermögen.
Darum schreiben sie solches Geschehn wohl der göttlichen Macht zu.
Haben wir also gesehen, daß nichts aus dem Nichts wild geschaffen,
Dann wird richtiger auch die Folgerung draus sich ergeben,
Woraus füglich ein jegliches Ding zu entstehen im Stand ist
Und wie alles sich bildet auch ohne die Hilfe der Götter.
Diese Zeilen wurden von dem römischen Dichter und Philosophen Titus Lucretius Carus vor mehr als 2000 Jahren gedichtet (naja, der lateinische Originaltext – diese Übersetzung von Hermann Diels stammt aus dem Jahr 1924), und sie – sowie die restlichen ca. 7800 Zeilen seines Werkes de rerum natura (Über die Natur der Dinge) – sind inspiriert vom Werk eines noch älteren griechischen Philosophen, Epikouros oder, eingedeutscht, Epikur.
Wie das so ist mit den Klassikern: Man kennt ihre Namen, hat vielleicht auch mal (im Latein-, Ethik oder eventuell auch im Religionsunterricht) Auszüge aus ihren Werken gelesen. Und ab und zu, nicht zuletzt dank WikiQuote, kann man sogar mal einen Satz, ein Zitat, in die eigene Rede, das eigene Blog einfließen lassen und so Vertrautheit mit philosophischen Grundlagen der abendländischen Kultur vortäuschen. Aber wer hat schon die Zeit, durch 7800 Zeilen Hexameter zu stolpern, deren Wortfülle manchmal die dahinter stehenden Gedanken eher zu verbergen als zu enthüllen scheint? (Obiges Zitat ließe sich ja auch prägnanter in der Einsicht “man braucht keine Götter und keine Religion” zusammenfassen.)
Selbst die Lektüre des Artikels The Answer Man im US-Magazin New Yorker über Lukrez’ Gedicht und dessen unbestreitbaren Einfluss auf die Renaissance und die Entwicklung der Wissenschaften, hatte ich lange vor mir hergeschoben. Aber die Lektüre hat sich, wie ich finde, gelohnt: Zu wissen, dass ein geschärfter Verstand sich schon vor mehr als Zweitausend Jahren mit den Fragen befasst hat, die auch moderne Wissenschaften noch als aktuell erkennen (nach unserer heutigen Terminologie wären dies zum Beispiel die Teilchenphysik und die Mehrere-Welten-Interpretation) und dabei zum Schluss kam, dass zur Erklärung unserer Welt keine Götter nötig sind, finde ich schon erstaunlich. Nicht zuletzt, weil dies belegt, wozu der menschliche Geist, wenn er denn zum Denken benutzt wird, in der Lage sein kann.
Und darum werd’ ich mir den Lukrez jetzt doch einmal vornehmen – dank der eingangs zitierten und hier auch gut strukturiert aufgelegten Übersetzung von Diels ist das sogar leichter, als ich befürchtet hätte …
Kommentare (38)