Es war einmal (ja, das wird wieder so ein Eintrag, in dem ich weit zurück in meine Kindheit blicke) eine Zeit, in der “Forscher” vor allem Reisende waren – Gelehrte ebenso wie Abenteurer oder Missionare*. Irgend welche alten Atlanten, die damals bei Großeltern oder auch in Schulbibliotheken noch herumlagen, enthielten tatsächlich noch Karten mit den sprichwörtlichen “weißen Flecken”:
Namen wie Sven Hedin, der Afrikaforscher Georg Schweinfurth (dank seines Namens in meiner Heimatstadt noch lange nach seinem Tod sehr populär), der Machu-Picchu-Entdecker Hiram Bingham oder Sir Edmund Hillary waren schon Grundschulkindern meiner Generation vertraut, Thor Heyerdahl fast schon ein Popstar. Die Buchserie über Die Abenteuer der Weltentdeckung von Hans-Otto Meissner hatte einen prominenten Platz im Buchregal bei uns zuhause.
Und jener, in meiner Überschrift zitierte Satz, den Henry M. Stanley bei seiner Begegnung mit dem lange verschollen geglaubten Missionar und Afrikaforscher David Livingstone äußerte, war vermutlich einer der ersten englischen Sätze, die ich überhaupt irgendwo gelesen habe.*
Womit wir nun endlich bei Livingstone wären. Genauer gesagt: bei seinen Tagebüchern. Der schottische Missionar saß 1871 aus gesundheitlichen Gründen für fünf Monate in dem Dorf Nyangwe im Kongo fest. Zwar hatte er weder Notizblock noch sonstiges Schreibpapier dabei – aber er besaß eine zwei Jahre alte Ausgabe der britischen Tageszeitung The Standard, die er in insgesamt 32 Blätter zerschnitt; mit Tinte (später, nachdem ihm die Tinte ausgegangen war, mit dem Saft aus örtlichen Beeren) schrieb er seine Beobachtungen – darunter ein Massaker arabischer Sklavenhändler an 400 bis 500 Frauen, an einem einzigen Tag, dem 15. Juli – quer über die gedruckten Zeitungstexte. Dieses Massaker wird als Ursache dafür gesehen, dass dem gesundheitlich angeschlagenen Livingstone jegliche Motivation abhanden kam, weiter nach dem Quellen des Nils zu forschen; statt dessen schleppte er sich nach Ujiji am Tanganjikasee – wo Stanley dann in jender legendär gewordenen Begegnung auf ihn traf.
Diese Tagebuchnotizen waren zwar nicht verschollen (sie waren im Archiv in Livingstones Heimatort Blantyre aufbewahrt worden) – aber unleserlich geworden. Sowohl die Tinte, als auch der Beerensaft, waren verblichen, und vor dem Hintergrund des Zeitungspapiers praktisch nicht zu entziffern:
Bis jetzt: Das David Livingstone Spectral Imaging Project an der University of California in Los Angeles konnte, wie der Name des Projekts schon verrät, mit Hilfe von digitaler Fotografie und Lichtanalysen in den Spektralbereichen von Infrarot bis Ultraviolett, die Handschrift Livingstones wieder lesbar machen:
Beide Abbildungen zeigen das gleiche Blatt: oben im normalen Spektrum, unten nach der Multispektralanalyse.
Das Tagebuch – dessen Inhalte noch nicht im Web verfügbar sind – enthüllt, wie ich der Projekt-Webseite sowie diesem Beitrag aus der New York Times zwar nichts grundsätzlich Neues – selbst der Bericht über das Massaker war bereits von Livingstone ein paar Monate später in einem weitaus weniger privaten Reisetagebuch verwendet worden, und die Nyangwe-Aufzeichnungen wurden 1874, ein Jahr nach Livingstones Tod, in einer bearbeiteten Ausgabe mit dem Titel Last Journals in Central Africa: From 1865 to His Death veröffentlicht. Aber gerade bei Persönlichkeiten, die derart zur Legende wurden wie Livingstone, verblasst manchmal die Person, der Mensch dahinter. Durch diese sehr persönlichen Beiträge wird er gewissermaßen wieder ein bisschen menschlicher und lebendiger.
* Aus heutiger Sicht ist uns klar, dass diese Forscher, Entdecker und Missionare nicht nur das hehre Ziel verfolgten, das Wissen der Menschheit zu mehren. Afrika- Lateinamerika- und Asienforscher waren auch die Pfadfinder , wenn nicht gar Agenten der Kolonialisierung. Und dass die Folgen des Kolonialismus bis heute vor allem in Afrika noch zu spüren sind, ist uns heute auch klar. In der Tat hat die Lektüre über diese Männer (ja, es waren damals alles Männer – wir reden über Ereignisse des 19. Jahrhunderts) gewiss mit geholfen, mich mit dem Kolonialismus und seinen Folgen auseinander zu setzen. Aber damals, als Grundschüler in den 60-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, war mir diese Einsicht noch verwehrt – dafür der bewundernde Blick umso mehr geöffnet.
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