Sachlich-nüchterne Betrachtungen homizidaler Tendenzen und Handlungen sind ja eher die Domäne meines ScienceBlogs-Kollegen Cornelius Courts. Doch aus gegebenem Anlass (womit gemeint ist: weil ich es heute hier gelesen habe) will ich mich auch mal mit dem Thema befassen. Die Idee, mal ein globales Ranking der tödlichsten Ereignisse der Weltgeschichte zu erstellen und dies dann auch in Buchform zu publizieren, ist so makaber, dass es ein Wunder ist, dass sie bisher von niemandem umgesetzt wurde. Vielleicht ist es akademisch zu unappetitlich, oder methodisch zu vage – aber jedenfalls bleibt die Ehre, das erste umfassende Kompendium der Massenmorde und -Mörder in der menschlichen Geschichte verfasst zu haben, dem Archivar/Bibliothekar am Bundesgericht in Richmond (Virginia), Matthew White, überlassen. White ist zwar kein Akademiker, aber seine Sammlung von Gräueltaten hat akademische Ehren erreicht: Laut seinen Angaben (via New York Times, siehe oben) wurde seine Datensammlung in 377 veröffentlichten Büchern und 183 wissenschaftlichen Artikeln zitiert (durch Google Scholar finde ich auf Anhieb zwar nur 74, aber das mag auch daran liegen, dass ich zu enge Suchkriterien, wie beispielsweise die exakte Schreibweise seines Namens, vorgegeben habe). Derer werden es nun gewiss mehr werden: Sein mehr als 640 Seiten dickes Kompendium The Great Big Book of Horrible Things ist im amerikanischen W.W.Norton-Verlag erschienen (die britische Ausgabe trägt den Titel Atrocitology und wird von Canongate verlegt.
Die akademischen Weihen erhält The Great Big Book of Horrible Things durch den Harvard-Psychologen Steven Pinker, der das Vorwort zu Whites Buch geschrieben und sich für sein neuestes Buch Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit auf Whites Datensammlung gestützt hat. Pinker nennt Whites Sammlung, an der dieser seit zehn Jahren arbeitet, die “umfassendsten, unvoreingenommensten und statistisch detailliertesten Schätzungen, die es zum Blutzoll der schlimmsten geschichtlichen Katastrophen gibt”. In der Tat sind es aber nur sehr grobe Schätzungen: White beruft sich ausschließlich auf veröffentlichte Zahlen und Daten; seine Angaben errechnet er aus dem Mittelwert dieser – oft historisch umstrittenen – Angaben.
Einem Statistiker mag hierbei das Grausen kommen – und vielleicht ist es auch einer der Gründe, warum kein “echter” Akademiker sich an so etwas heran wagen würde. Die Methodik würde schon im Anfänger-Proseminar zerfetzt … Aber andererseits gab und gibt es wissenschaftliche Fragen, die durchaus berechtigt sind und auf die mit Hilfe von White, der sich selbst abwechselnd und ironisch mal als Atrozitologe, Nekrometiker oder Erfasser von Hämoklysmen (= griechisch für Blutvergießen) bezeichnet, wenigstens ansatzweise eine Antwort möglich wird: War das 20. Jahrhundert tatsächlich das blutigste der Menschheitsgeschichte? Wieviele Todesopfer forderte der Nationalismus, oder Religionen, oder er Kommunismus, oder der kapitalistische Imperialismus?
Reden wir doch mal konkreter: Nach Whites Schätzung war der Zweite Weltkrieg in der Tat das tödlichste Ereignis der Menschheitsgeschichte – 66 Millionen Menschen kamen dabei (laut White) ums Leben, darunter 46 Millionen Zivilisten; hier sind der Zweite Japanisch-Chinesische Krieg (der bereits 1937 begann und erst durch den Angriff Japans auf Pearl Harbor im Dezember 1941 Teil des Zweiten Weltkriegs wurde; Abb.), die stalinistischen “Säuberungen” , zumindest während der Dauer des Zweiten Weltkrieges, ebenso mit eingerechnet wie der Holocaust und die bengalische Hungersnot von 1934-44 (die darauf zurück geführt wird, dass die britischen Kolonialherren die Versorgung der Zivilbevölkerung zu Gunsten der Armee drastisch reduziert hatten). Doch relativ zur Gesamt-Weltbevölkerung waren andere Ereignisse drastischer:
Der nach Whites Einstufung zweitplatzierte Dschingis Khan hat immerhin die Ausrottung von etwa 40 Millionen Menschen, das entspräche einem Zehntel der damaligen Weltbevölkerung zu verantworten (zum Vergleich: Der zweite Weltkrieg reduzierte nach Whites Zählung die Weltbevölkerung um etwa drei Prozent). Doch selbst Dschingis Khan verblasst noch gegen den General An Lushan (Rang 13), dessen Revolution in den Jahren 755 bis 763 unserer Zeitrechnung rund 36 Millionen Menschen das Leben kostete – Dreiviertel der chinesischen Gesamtbevölkerung und rund 17 Prozent der damaligen Menscheit.
Die Frage, ob beispielsweise die 15 Millionen Todesopfer der Conquista Amerikas primär der Gier nach Reichtümern oder zumindest teilweise auch dem falsch verstandenen (?) Bekehrungseifer katholischer Kräfte zuzuschreiben ist, lässt sich anhand der White-Liste (in der allein die wirtschaftlichen Komponenten der Conquista aufgeführt werden) natürlich nicht entscheiden. Wie soll man die territorialpolitische Komponente der Konflikte zwischen Irland und England (die eigentlich seit Oliver Cromwells Zeiten bis heute ungebrochen anhalten und Menschenleben fordern) von der religiösen trennen? Darüber, ob der 30-jährige Krieg primär ein Kampf um Macht und Vormacht in Europa war oder ein Kampf zwischen Katholiken und Protestanten, lässt sich allein anhand von Opferzahlen keine Entscheidung finden. Und dies sind alles noch vergleichsweise gut dokumentierte und historisch erforschte Konflikte.
Der größte Mangel des Buches ist vermutlich auch seine Stärke: Gerade weil er sich um die Freiheiten der Methodik wenig Kopfzerbrechen macht – wobei White sich der Unzuverlässigkeit jeglicher Opferzahlen bewusst ist, ganz besonders aber bei Ereignissen die historisch weit zurück und räumlich weit entfernt liegen, wie etwa die blutige Episode der Xin-Dynastie kurz nach dem Beginn unserer Zeitrechnung, der er zehn Millionen Todesopfer zuschreibt – ist es überhaupt erst möglich, diese “Daten” unter einem Konzept zu erfassen. Oder, wie Carl-Friedrich von Weizsäcker mal gesagt haben soll (ich finde leider keine Quelle für das Zitat, auch keinen Hinweis mehr darauf, wo ich es gelesen hatte), “mit einem schmutzigen Lappen kann man einen schmutzigen Teller in schmutzigem Wasser erstaunlich sauber bekommen”.
Und selbst jemand, der die Daten anzweifelt, wird zugeben müssen, dass Whites Perspektive manchmal ziemlich erfrischend ist. Wer denkt schon daran, dass ausgerechnet in einer auf die männliche Linie beschränkten Erbmonarchie die Macht der (über die weibliche Seite angeheirateten) Schwiegerfamilie am größten ist, weil die Männer der eigenen Linie alle potenzielle Konkurrenten um die Erbfolge sind, die eigene Schwiegerfamilie jedoch bei einem Sturz des Monarchen jegliche Macht (und gelegentlich auch schon mal ihr Leben) zu verlieren hat – und daher dem Monarchen umso ergebener und förderlicher ist?
Und bei allem Respekt für die historische Forschung sollte man ruhig etwas Platz für die Ideen von Menschen wie White lassen (vor allem, wenn sie sich selbst nicht als Wissenschaftler ausgeben). Denn geschichtswissenschaftlich mag eine solche Karte – die hat nun nichts mehr mit dem Buch über die historischen Massenmörder zu tun, ist aber auf Whites Website zu finden – wie die nachstehende über die Balkanisierung Amerikas recht wertlos sein (weil sie die zugrunde gelegten Ereignisse nicht weiter kontextualisiert oder analysiert, sondern einfach mal einen veränderten Geschichtsverlauf zu Grunde legt, in dem jede spearatistische Bemühung erfolgreich war) – aber sie macht doch nachdenklich darüber, dass manchmal Kleinigkeiten große Wirkungen haben können:
Abbildungen: Public domain via Wikimedia Commons (3)
Matthew White (1)
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