Ich hatte vor einigen Tagen ja schon versprochen (gedroht?), etwas ausführlicher über das Konzept des Connectoms und im Besonderen auch über Sebastian Seungs Buch Connectome – How the Brain’s Wiring Makes Us Who We Are zu schreiben. Nun habe ich das Buch durchgelesen; Zeit also, das Versprechen einzulösen (= die Drohung wahrzumachen). Und gleich mal vorweg: Es war eine der erfreulichsten Lektüren zu wissenschaftlichen Themen, die ich seit langem genießen konnte. Sebastian Seung hat es geschafft, die graue Materie der Hirnforschung durch Vergleiche, Anekdoten, historische Referenzen zu illustrieren (die Auswahl der Illustrationen selbst ist auch sehr gut; nur die Wiedergabequalität lässt manchmal zu wünschen übrig). Seine Begabung als wissenschaftlicher Erzähler hat er ja in seinem TED-Vortrag bereits gezeigt …
Einsteins Hirn war eher klein
Und manche Informationshäppchen sind selbst noch als Party-Gesprächsstoff gut zu gebrauchen: dass beispielsweise das Gehirn des französischen Literaturnobelpreisträgers Anatole France (1844 – 1924) mit einem Gewicht von 1017 Gramm etwa 25 Prozent unter dem Durchschnitt lag und nur etwa halb so viel wog wie das Gehirn des russischen Schriftstelleres Ivan Turgenjew (1818 – 1883), der zwei Kilogramm und 21 Gramm Hirnmasse in seinem Schädel transportierte. Auch das Jahrtausendgenie Einstein war, was die Masse an grauen Zellen angeht, leicht unterversorgt – was nur den alten Spruch bestätigt, dass es auf die Größe nicht ankommt …
Nun aber zum Thema Connectom selbst: Auf die Idee, dass sich unser Hirn in unterschiedlich spezialisierte Teile aufgliedern lässt, waren bereits die Phrenologen gekommen; die Großzügigkeit, mit der Sebastian in seinem Buch dieser Pseudowissenschaft – die letztlich aus Schädelformen und -Unebenheiten auf die psychischen Besonderheiten eines Individuums schließen will – die Vordenkerrolle in der Neurowissenschaft zugesteht, hat mich anfänglich ein bisschen zusammenzucken lassen. Aber andererseits werden in der modernen Neurologie ja in der Tat die Funktionen des Hirns räumlich verortet; die Phrenologie hat sich zwar in ihren Methoden nie bis zur Wissenschaftlichkeit entwickeln können, aber das Konzept der Lokalisation an sich hat sich als durchaus belastbar erwiesen.
Hardware mit “Seele”
Wenn man davon ausgeht, dass a) das Gehirn eine enorme Ansammlung von mindestens 100 Milliarden Neuronen ist die b) miteinander verknüpft sind und c) je nach Lage im Hirn unterschiedliche Funktionen ausüben können, dann ist die Idee, dass es so etwas wie einen Schaltplan geben muss, gar nicht mehr weit entfernt. Doch das Connectom ist ein bisschen mehr als nur ein Schaltplan: Seung sieht es nicht nur als ein Stück Hardware, das nur dank einer separaten Software (die in diesem Sinn dann wohl am ehesten der “Seele” entspräche) funktionieren kann. Seine Hypothese – und dies betont er immer wieder: Es ist eine Hypothese, an deren Überprüfung er und viele seiner Kolleginnen und Kollegen arbeiten – lautet, dass das Gehirn und sein neuronales Netzwerk sowohl Hardware als auch Software sind. Dass also alles, was uns ausmacht, unser Denken, Fühlen, Handeln, in diesem Geflecht von Neuronen, Axonen und Synapsen “dokumentiert” ist. Und dass umgekehrt alles, was wir Erleben, Erfühlen, Erfahren, Erdenken, dieses Geflecht in einer nachvollziehbare Weise verändert.
Das ist, wie gesagt, seine Hypothese; eine (im Buch angesprochene) Alternativ-Hypothese, ebenfalls plausibel, wäre zum Beispiel, dass die Funktionsweise der Neuronen durch Signalstoffe, also Hormone oder andere Neurotransmitter, “extrasynaptisch” kontrolliert wird – dann wäre das Connectom tatsächlich nur ein Schaltplan, eine Leiterplatine, wenn man so will. Und ebenso wenig wie man an den Schaltkreisen eines Mikrochips ablesen kann, welches Programm und welche Daten gerade darauf laufen, könnte man dann aus diesen phyischen Verknüpfungen des Gehirns Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Hirnbesitzers ziehen. Aber das Buch dreht sich, wie der Titel schon sagt, um das Konzept des Connectoms, also um die Idee, dass sich unsere Persönlichkeit in der materiellen Struktur unseres Gehirns manifestiert – und um die Schwierigkeiten, dies in der Praxis zu testen.
Das Flussbett der Hirnströme
Das Konzept des Connectoms wurde 2005 von Olaf Sporns im Paper The Human Connectome: A Structural Description of the Human Brain und von
in Lausanne zeitgleich, aber unabhängig voneinander formuliert; es lehnt sich an die Idee des Genoms an – so wie das Genom alle Informationen über unsere Physis codiert, so sollte das Connectom alle Informationen über unsere Psyche enthalten. Oder etwas weniger gestelzt gesagt: Das Genom kontrolliert unseren Körper, das Connectom unseren Geist. Wobei Seung, auch das darf nicht unerwähnt bleiben, im Prinzip davon ausgeht, dass die Grundlagen des Connectoms genetisch vorgegeben sind – aber dass es durch Erfahrungen, durch Lernen etc. verändert werden kann. Als Metapher bietet sich hier in der Tat der Flusslauf an: Die Form des Flussbettes bestimmt, wie und wo das Wasser fließt; aber auf lange Sicht wird der Strom des Wassers die Form des Bettes ändern. Die Frage ist nur, ob dieser Prozess irgendwann aufhört (bisher gehen wir ja generell davon aus, dass die Gehirnentwicklung mit dem Erwachsenwerden abgeschlossen ist), oder ob er sich durch die gesamte Lebensdauer des Gehirns hindurch abspielt. Und damit ist nicht nur die Frage gemeint, ob Neuronen nachwachsen können, sondern vor allem, ob auch die bestehenden (“erwachsenen”) Verknüpfungen umgebaut, umbewertet, umgeschaltet etc. werden können.
Ein Kubikmillimeter in einer Million Personenjahren
In der Theorie klingt die Aufgabe, alle Verknüpfungen zwischen allen Neuronen eines Gehirns zu erfassen, zu “kartieren”, ja eher mechanistisch: Alles, was man braucht, ist ein ausreichend genaues Beobachtungsinstrument, das jede einzelne Nervenzelle, mit all ihren Dentriten, Axonen, Synapsen etc. erfassen kann – und eine ausreichend große Datenbank, um die dabei gewonnenen Daten speichern zu können. In der Praxis ist diese Aufgabe bisher aber noch nicht lösbar: Tomographien haben nicht die Auflösung, einzelne Neuronen zu erkennen; alle anderen Methoden setzten aber die physische Zerlegung des Gehirns voraus – wenn wir also unser eigenes Connectom analysieren lassen wollten, müssten wird dafür mit dem Leben bezahlen. Warum selbst dieser hohe Preis dem einen oder anderen Forscher angemessen schiene, werde ich gleich noch ansprechen; vorerst bleiben wir mal bei den technischen Anforderungen. Um in die Größenordnung der Nervenzellen einblicken zu können, bedarfs es eines Elektronenmikroskops; das wiederum funktioniert am besten, je dünner die Gewebeprobe ist, die es zu betrachten gilt. 25 Nanometer, also 25 Millionstel Millimeter wären eine brauchbare Dicke. Technisch sind solche Dünnscheiben machbar – aber allein ein Kubikmillimeter Gehirnmasse enthält eine, selbst nach dem Kraftakt des Genom-Entschlüsselns, noch unvorstellbar große Datenmenge: Mit heute verfügbaren Techniken würde es eine Millionen Personen-Jahre (= die Zeit, die eine Million Menschen in einem Jahr darauf verwenden) in Anspruch nehmen, connectomisch abzubilden!
Ein großer Teil des Buches wird auf die Beschreibung der technischen Herausforderung, auf ihre bestehenden Lösungen und die Hoffnungen/Erwartungen für künftige Technologien verwendet. Das ist nachvollziehbar, da genau hier die Aufgaben liegen, die Sebastian Seung und all seine Kolleginnen und Kollegen, die an diesem Connectomprojekt forschen, lösen müssen. Das ist in sich durchaus faszinierend und erzählenswert, aber nicht das, was mich am nachhaltigsten beschäftigt hat. Nehmen wir mal an, es wird in absehbarer oder etwas fernerer Zukunft möglich sein, das komplette Connectom eines Menschen zu erfassen (Sebastian rechnet damit, dass dies vielleicht noch in diesem Jahrhundert passieren wird – die Chance, dass ich es also miterlebe, ist praktisch null). Würden wir dann wissen, wer dieser Mensch ist? Könnten wir das Connectom lesen wie ein Buch? Wahrscheinlich nicht. Eher wie einen Text in Linearschrift A – wir werden wissen, dass es ein “Text” ist, und vielleicht auch die Bedeutung einzelner kurzer Signalfolgen erahnen können – aber einen Sinn werden wir darin erst mal nicht erkennen können.
Simulierte Persönlichkeiten
Aber wie wäre es, wenn wir diese “Schaltkreise” – immer ausgehend davon, dass sie allein ausreichend sind, um die Persönlichkeit “zum Laufen” zu bringen – in einem Computer simulieren, oder besser: modellieren könnten? Wenn wir wirklich jede Verbindung zwischen allen Neuronen kennen, und wenn diese Verbindungen (die qualitativ zwischen einzelnen Neuronen natürlich unterschiedlich sein können) tatsächlich sowohl die Hardware als auch die Software unseres Selbst, unseres Bewusstseins sind, dann könnten wir unseren Verstand in einen Computer “hochladen”, nicht wahr? Diese Möglichkeit wird am Ende des Buches tatsächlich diskutiert. Der Wunsch mancher Menschen, ihr Ich in alle Ewigkeit zu konservieren, ist ja durchaus groß – groß genug beispielsweise für den Hirnforscher Kenneth Hayworth, dessen Arbeit an einem Mikrotom (das Gerät, mit dem die Ultrafeinschnitte für Elektronenmikroskopie gemacht werden) eine maßgebliche Rolle bei der Fortentwicklung der Connectomik spielen wird, dass er bereit ist, sein eigenes Hirn noch zu Lebzeiten (naja, die wären dann natürlich vorbei) so konservieren zu lassen, dass es vielleicht in einer technologisch fortgeschritteneren Zukunft in solch einer oder auch jeglicher anderer Weise “rekonstruiert werden kann. Diese Anekdote habe ich ungeprüft aus Sebastians Buch übernommen.
Der Idee, den Verstand eines Genies – für Einstein ist’s ja zu spät, aber Stephen Hawking wäre noch verfügbar, andere hätten vielleicht lieber die Geschäftstüchtigkeit eines Bill Gates oder die musikalische Kreativität einer Norah Jones – als Computermodell auf Dauer zu erhalten, klingt im ersten Moment verlockend: wie oft beklagen wir den unwiederbringlichen Verlust eines Menschen, und meinen damit (weil wir der Person selbst ja nie real begegnet sind) vor allem dessen geistige Präsenz. Doch der kalte Schauer des Grauens kam mir noch, während ich den vorangegangenen Satz getippt habe: Wer schützt dieses Genie im Computer dann vor Raubkopien? Oder vor der massenhaften Vermarktung in eine geistige Sklaverei? Wäre eine solche Computersimulation überhaupt ein Ich, eine Person im cartesischen Sinn: Cogito, ergo sum?
Anders gefragt: Was macht so ein Ich zum Selbst? Wäre es Ich, wenn mein Verstand – so, wie er jetzt gerade verknüpft ist – auf einen Computer geladen werden könnte? Oder wäre dies, was mir plausibler schiene, ein geistiger Zwilling, der sich im Moment des Uploads in ein eigenes Ich separiert hat, das mir ebenso unzugänglich sein wird wie der Verstand eines jeden anderen Menschen? Wäre dieser Maschinen-Avatar im weitestens Sinn menschlich? Wo doch jede neue “Erfahrung” nur eine Simulation sein könnte. Und egal, wie überzeugend einem die Simulationen und virtuellen Realitäten moderner Computerwelten und -Spiele erscheinen mögen, sind sie doch von der Realität, der Welt, unendlich weit entfernt. Und einen guten Espresso kann man dort völlig vergessen …
Aber letztlich führt diese Frage, die wir zum Glück noch ein paar Generationen lang nicht werden beantworten müssen, nur zum aktuellen Ich zurück: Bin ich das Produkt meines Connectoms, also letzlich der Gefangene und Sklave meiner neuronalen Verbindungen? Ich denke (!) nicht: Jede neue Erfahrung, jedes hinzu gelernte Stückchen Wissen, jeder neu kennen gelernte Gesprächspartner wird dieses Connectom – und damit mich – ein bisschen verändern. Sicher, genau so wenig wie mich meine körperlichen Beschaffenheiten jemals zum Fliegen befähigen können, wird mein Gehirn jemals in der Lage sein, eine Sinfonie zu komponieren oder zu begreifen, warum man das Dschungelcamp anschauen sollte. Aber ein paar Dinge werde ich ihm schon noch beibringen. Denn ich bin zwar vermutlich mein Connectom – aber das wird morgen schon wieder ein bisschen ander sein als heute. Und doch bin ich, denke ich, ich. Oder?
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