Dies ist ein Gastbeitrag von Andrea Schaffar. Sie ist Sozial- und Kommunkationswissenschaftlerin und Lehrbeauftragte am Institut für Pubizistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien.
Im Alltag wird als wertvoll erachtet, was einfach ist. Klare Ansagen, die suggerieren die Welt wäre schwarz und weiß – Fragen, die mit ‚wahr’ oder ‚falsch’ beantwortet werden können. Absolutes und ohne Schwierigkeiten Nachvollziehbares schlägt Aussagen mit Wahrscheinlichkeiten oder auch Verhältnissen. Warum?
Unser Alltagsdenken reduziert Komplexität. Erst die Reduktion der unzähligen Reize mit denen wir tagtäglich konfrontiert sind, macht es überhaupt möglich durch den Tag zu kommen. Ein Denkbeispiel: Am Morgen in der U-Bahn zu fahren ruft Verhaltensweisen hervor, um mit dieser Ansammlung von Menschen, Stress und Umgebungsreizen umzugehen. Manche versinken in ihren Handys oder IPods, andere in Zeitungen oder Büchern und wieder andere starren ins Leere bzw. auf die gleichmäßig vor sich hin schwingenden Halterungen an der Decke der U-Bahn. An dem Ort treffen alle aufeinander: Unterschiedliche Herkunft und Geschlechter, Alters- und Berufsgruppen, alle sozialen Milieus und Prioritäten. Ablesbar an Kleidung, Körperhaltung, Verhalten, Haarschnitt, den Büchern oder Zeitschriften, die in der Hand gehalten wird oder die Art des Handys bzw. des Umgangs damit. Auf all das gleichzeitig zu achten, würde uns verrückt machen. Die Wahrnehmung dieser Eindrücke ist auf ein Minimum beschränkt, meist nur Ausreißer – besonders schöne oder hässliche oder auch absurde Dinge – fallen überhaupt auf oder bleiben im Gedächtnis. Wir haben gelernt – Stichwort Sozialisation – wie wir uns in Situationen verhalten sollen. Und damit das reibungslos funktioniert, haben wir gelernt all das auszublenden und als „normal” oder „natürlich” zu etikettieren. Handlungsfähig zu bleiben, heißt einen großen Teil der Ereignisse auszublenden und mit gelernten Verfahrensweisen zu agieren. Wir tun das immer und überall zu jedem Zeitpunkt des Tages. In den Öffis genauso, wie im Beruf oder der Ausbildung, beim Fernsehen und Lesen, wie auch in unseren sozialen Umfeldern. An sich ja nicht schlecht, sondern äußerst hilfreich. (Menschen die diese Fähigkeiten nicht haben bzw. nicht so aufgeprägt haben, fällt der Alltag wesentlich schwerer – siehe auch die Debatten rund um AD(H)S, eine Aufmerksamkeitsstörung bei der Menschen „normale”, „natürliche” Verarbeitung von Reizen auf unterschiedliche Art und Weise schwer fällt.)
Nur haben diese Reduktionen auch ihre Nachteile. Jeder von uns kennt das unangenehme Gefühl in eine Schublade gesteckt zu werden. Nichts anderes ist unser Alltagsdenken. Ein permanentes Auf- und Zumachen von Schubladen. Was geschieht wird – meist unbewusst – sortiert und eingeordnet. Vieles als nicht beachtenswert wahrgenommen. Einiges passt in unsere Alltagsschubladen. Dinge, die nicht eingeordnet werden können, irritieren. Diese werden dann kognitiv passend zurechtgeschnippelt, damit sie doch in eine Schublade passen. Wenn das nicht klappt, gibt es einige andere Strategien damit umzugehen: Etwas abzuwerten, lächerlich zu machen o.ä. entwertet und braucht dann auch nicht weiter behandelt zu werden. Manches Irritierende bringt zum Nachdenken. Anderes wieder regt uns auf und beschäftigt uns. Und nach wieder anderen Dingen suchen wir direkt, da sie bestätigen was wir uns denken. (Stichwort Selektive Wahrnehmung) Dieses Vorgehen nach Ein- und Ausschließungen, Be- und Abwertungen ist ein Aspekt dessen das uns handlungsfähig erhält. Wie wir über andere denken, welche Themen uns interessieren, welche Prioritäten wir haben, sind alles wichtige Anteile dessen, um uns unseren Alltag bewältigen zu lassen. (Woher das kommt: Stichwort Sozialisation) Es wird einfacher, klarer, wir schaffen uns Orientierung und haben unsere Ordnungssysteme mit denen wir zurechtkommen.
So hilfreich diese Schubladen und Schemata auch sind, werden sie doch dem tatsächlich Vorhandenen nie gerecht. Sie haben ein Eigenleben, werden nicht nur von jede/r einzelnen produziert sondern werden gesellschaftlich gebildet bzw. beeinflusst. Dieses Eigenleben übernimmt die Schaffung von Realität, die nicht nur individuell ist sondern menschenübergreifend, d.h. kollektiv, gültig wird. Nicht nur die Einordnung findet so statt, auch die Bewertung. Was gut ist bzw. was wir gut finden, ist genauso eine Schublade, wie das passende Verhalten in einer Situation.
Wir haben die Möglichkeiten uns auf quasi sichere Schiffe im Fluss des Alltags zu retten, die eine Art einprogrammierte Navigation haben. Zwischen diesen Schiffen wechseln wir hin und her. Diese Schiffe fahren teils in Flottenverbänden – so etwas wäre z.B. eine politische Partei – teils in kleineren Einheiten. Der Zugang zu den Schiffen ist nicht für alle offen, es gibt sowas wie Eintrittskarten, die in Familien, Schulen und an Arbeitsstellen verteilt werden. Wird ein Teil dieses Bildes gestört – werden Eintrittskarten in Frage gestellt oder Schiffe abgeschafft – wird das Gesamtbild gestört. Traditionelle Werte und Haltungen sind nichts anderes als bewährte Schiffe, ihre Flottenverbände und Verhältnisse zu bewahren: Die Bewahrung des Status Quo – Tradition und Konservierung – gehen da Hand in Hand. Denn das einzig Fixe in dem Ganzen, ist die Veränderung: Die Beweglichkeit des Wassers, dass Schiffe gewartet und erneuert werden müssen, dass jede/r neue TeilnehmerIn und jedes neue Ereignis das große Ganze ein kleines Stückweit verändert. Die Veränderung fordert Beweglichkeit und Neues, was wieder Neudefinitionen erfordert und das ist mühsame Arbeit. Ein Aufwand der kollektiv von allen Schiffhupfenden betrieben werden muss und deshalb meist lieber vermieden als betrieben wird. Den Status Quo zu erhalten, ist oft einfacher, weniger aufwendig und letztendlich sicherer. Die Schiffe und Verbände bleiben lieber am bewährten Kurs, mit klarer Formulierung und einem erreichbaren Ufer. Die sicheren Häfen müssen erhalten werden, um die ganze Schifffahrt zu gewährleisten.
Was das Bewährte und Klare bestätigt, wird von vielen positiv erlebt. Wir hören lieber, dass unsere Schiffe gut und fähig sind, als uns damit zu konfrontieren, dass sie morsch oder überholt sind. Lieber bleiben wir auf einem bewährten Tanker als uns auf noch nicht ganz ausgereifte Boote zu begeben. Nur so zu verfahren, wäre aber auch langweilig, oder? Deshalb gibt’s auch ein paar Schiffe, die die Berechtigung haben in unbekannte Terrains vorzudringen, neue Zusammenhänge aufzudecken und das Eingefahrene aufzupeppen. Solang diese Erkundungsschiffe dem Abenteuer und dem Fortschritt dienen – eigentlich ja ein Widerspruch Tradition und Fortschritt – und einer bekannten Route entsprechen, sind sie willkommen. Auch unsere Nachrichten brauchen Futter. Diese Erkundungsschiffe finden sich in Bereichen wie z.B. Journalismus und natürlich in der Wissenschaft. Aber auch dort nicht überall, sondern in Teilbereichen. Die Flotte fährt auf der sicheren Route. Manche Wissenschaften sind gesellschaftlich positiv besetzte Flottenverbände, liefern Neues, bringen Sensationen und haben den Ruf für unseren Alltag sinnvoll zu sein. Und sie bringen neue, vermeintlich sichere, Routen. Zumindest werden diese so dargestellt, oft stellen sie sich später als doch nicht gar so sicher heraus. Stichwort Atomenergie, Waldsterben oder ähnliches. Das Revidieren von Erkenntnissen gehört zum wissenschaftlichen Tagesgeschäft.
Was hat so eine Schifffahrtsmetapher in einem Blog über Sozialwissenschaften verloren? Manche Wissenschaften hinterfragen diese alltägliche Schifffahrt durch die Realität. Die Schiffe an sich, die sicheren Häfen, die Routen und Materialien werden hinterfragt. Und die Antworten sind nicht klar und eindeutig, sondern oft so vielfältig wie die handelnden Personen oder Gruppen. Das Grundsätzliche im sozialen Miteinander zu hinterfragen, produziert keine Sicherheiten sondern Unsicherheiten. Steht im Widerspruch zu den fixierten, erfahrenen Werten und ist daher auch weniger willkommen als eine z.B. technische Neuerung, die die herkömmliche Route aber nicht unbedingt in Frage stellt. Wenn die Sonne nicht um die Erde kreist, dann wirft das unsere Routen durcheinander, hinterfragt die Angemessenheit unserer Schiffe und bedroht den Bestand unserer Flottenverbände. Verständlich dass da manchmal lieber die Tatsache geleugnet wird und versucht wird die Veränderung aufzuhalten als den Fakten auf den Grund zu gehen?
Und was soll dann noch eine Wissenschaft, die von sich sagt nichts Absolutes liefern zu können, sondern das Relative betont. Sagt, dass alles von Situationen und Perspektiven abhängig ist und damit ohne Auseinandersetzung nicht einfach so greifbar wird. Eine Richtung, die Forschung macht, um gesellschaftliche Veränderungen zu benennen und zu beschleunigen, ist ein grundsätzlicher Stachel im Fleisch der Realitätsschifffahrt unseres Alltags. Der Stellenwert der Sozialwissenschaften erklärt sich daraus, aber nicht nur (was sonst wäre möglich als hier wieder das Relative zu betonen, der ganze Blog hier wird zu einem Plädoyer für Relationen, und Perspektiven. ;). Relativ gesehen sind die Sozialwissenschaften junge Booterln und haben keine Deutungshoheit über ihren Gegenstand. Mehr dazu was die Sozialwissenschaften eigentlich tun beim – hoffentlich – nächsten Mal.
P.S.: Der Text ist _keine_ Kritik an anderen Disziplinen und auch keinesfalls als Ablehnung oder Abwertung gemeint. Mir geht es rein darum aufzuzeigen was in Relation zu den medial oder gesellschaftlich als relevant angesehenen Wissenschaften die Sozial- (und auch Geistes)wissenschaften für eine Rolle spielen.
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