Ich möchte wetten, dass diese Überschrift sehr schnell auf Widerspruch stößt: Naturschutz- und Wandervereine gibt’s bestimmt schon länger als ein halbes Jahrhundert (der amerikanische Sierra Club beispielsweise ist vor gut 120 Jahren gegründet worden; der in meiner fränkischen Heimat aktive Rhönclub ist sogar noch 16 Jahre älter. Aber zwischen Naturschutz und Umweltschutz besteht doch ein gewisser Unterschied. Die Verbreitung der Einsicht, dass nicht nur landschaftliche Schönheiten und seltene Tier- und Pflanzenarten bedroht sind und des Schutzes bedürfen, sondern unsere gesamte Umwelt, also auch die urbane, die agrarische etc., haben wir – primär in den USA, aber plausibel auch weltweit – dem Buch Silent Spring (auf deutsch: Der stumme Frühling) von Rachel Carson zu verdanken. Doch ehe Silent Spring als Buch erschien, wurde es als dreiteilige Reportage im US-Magzin The New Yorker veröffentlicht – und die erste Folge erschien in der Ausgabe vom 16. Juni 1962, also fast auf den Tag genau vor 50 Jahren (US-Magazine tragen als Datum immer das Ende ihrer Erscheinungsperiode – der New Yorker, der seit heute (=Montag) an den Kiosken ausliegt, trägt das Datum des 18. Juni 2012.
Die Artikelserie (und später das Buch) beschreibt ziemlich eindringlich die Folgen des Einsatzes von Pestiziden, vor allem DDT, nicht nur auf die Fauna, namentlich die Vögel (deren plötzliches – und zum Glück noch fiktives – Verschwinden für den “stummen Frühling” verantwortlich ist), sondern auch auf Menschen; die daraus resultierende Diskussion, die in den USA heftig (in Europa etwas abgemilderter) geführt wurde, zog spontan erst mal den Bericht einer von Präsident John F. Kennedy einberufenen Untersuchungskommission nach sich und führte in ein bis eineinhalb Jahrzehnten zu globalen Verboten des DDT-Einsatzes. Und die Idee, dass wir Menschen mit unserem Handeln uns nicht einfach nur “die Erde untertan” machen, sondern unsere eigenen Lebensgrundlagen zerstören können (das ist es, was den Umweltschutz vom Naturschutz unterscheidet), manifestierte sich in dem, was wir heute als die “grüne” politische Richtung bezeichnen.
Ich hatte bei einer Begegnung mit Walter Mugdan, Mitarbeiter der US-Umweltbehörde EPA vor 30 Jahren in New York zum ersten Mal von Rachel Carsons Buch gehört; gelesen hatte ich es bisher nicht (und auch erst aus Anlass des Jubiläums die originalen New-Yorker-Artikel herausgesucht). Der Gedanke, dass jemand nicht begreifen könnte, wie ungehemmter Pestizideinsatz die Umwelt nachteilig verändern kann, war mir in meinen Mittzwanzigern gar nicht erst gekommen. Im Englischen nennen wir solch eine unvermeidliche Einsicht einen no-brainer …
In aktuellen Umweltschutzfragen (in denen die Sorge um den Klimawandel inzwischen die ANgst vor der Umweltverschmutzung zu verdrängen scheint, was ein grober Fehler wäre) mit Rachel Carsons Buch zu argumentieren, würde wohl ein bisschen altväterlich oder -mütterlich wirken (obwohl sich an den Argumenten und der wissenschaftlich fundierten Aufbreitung seither nichts geändert hat). Aber man könnte natürlich argumentieren, dass sie weit übertrieben hatte – die Vögel sind nicht gestorben, die Landschaft nicht verödet. Unsere Kinder fallen nicht tot von den Schaukeln der Spielplätze. Genau so, wie das “Argument” vorgebracht wird, das Waldsterben sei reine, hysterische Panikmache gewesen – schließlich stünden die Wälder ja immer noch. Aber sie stehen halt noch, weil rechtzeitig (oder wenigstens nicht zu spät) vor den Gefahren der Kraftwerkabgase gewarnt und entsprechende Gegenmaßnahmen erlassen wurden. Und ja, der Frühling ist nicht verstummt, weil wir uns bewusster wurden, welche Gefahren der Einsatz von Pestiziden mit sich bringt. Wer dies für Hysterie hält, der lässt sich auch die Bremsen aus seinem Auto ausbauen, weil sie ja den scheinbar unausweichlichen Unfall vermeiden halfen; nachdem kein Unfall passiert ist, war – dieser No-Waldsterben-Logik entsprechend – auch die ganze Bremserei unnötiger und die Fahrt verzögernder Quatsch.
Ich empfehle die Lektüre von Rachel Carsons Buch – oder ihren oben verlinkten New-Yorker-Artikeln – also nicht primär wegen der unbestreitbaren Überzeugungskraft seiner Argumente, sondern weil es Teil eines gesellschaftlichen Prozesses wurde. Klar, die Agroindustrie hatte mit enormem PR-Aufwand die Aussagen des Buches diskreditiert und die Segnungen des Pestizid-Einsatzes gegen die Risiken (die unbestreitbar vorhanden sind – die Ausbreitung der Malaria beispielsweise lässt sich mit DDT ziemlich wirksam eindämmen), so wie große Player der Energiewirtschaft heute die Warnungen vor den Folgen des drohenden Klimawandels – oder den Klimawandel ans sich – leugnen lassen. Damals hatte, wie es scheint, die Vernunft gesiegt. Wird sie es auch heute?
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