Das ist eine Frage, die sich zuallererst mal an mich selbst richtet: Messe ich mit zweierlei Maß, wenn ich hier die Identifizierung des Skeletts von Richard III. unverblümt als spannende Wissenschaftsgeschichte lobe, obwohl mein Beitrag nicht auf peer-reviewten Erkenntnissen beruht, sondern auf Pressemitteilungen und Dokumentarfilmen? Wo ich doch genau das bei der Präsentation von Darwinius masillae scharf kritisiert habe? Oder wir uns als Wissenschaftsblogger ziemlich einig waren, dass das voreilige und mediale Ausposaunen der überlichtschnellen Neutrinos der Wissenschaft einen Bärendienst erwiesen hat? Erinnern wir uns noch an die ebenfalls medial in einer Pressekonferenz breit getretene, aber wissenschaftlich unhaltbare Behauptung von Martin Fleischmann und Stanley Pons, eine kalte Wasserstoff-Kernfusion auf ihrem Labortisch erzeugt zu haben? Also nochmal: Warum soll das bei Richard III. dann plötzlich in Ordnung sein?
Erste Antwort: Vielleicht ist es in Ordnung, vielleicht nicht. Darüber wird in der Tat diskutiert, und der Vorwurf des Medienrummels ist sicher begründbar. Ich kann hier nur meine persönliche Sichtweise – soll ich sagen: Rechtfertigung – geben: Im Gegensatz zum angeblichen “Missing link” D. masillae, im Gegensatz zu Neutrinos, die Löcher in die am besten etablierte wissenschaftliche Theorie unserer Gegenwart schießen, im Gegensatz zu Deuterium-Atomen, die im Reagenzglas etwas tun, was physikalisch unmöglich schien, haben die Forscher der Universität Leicester keine revolutionären Thesen aufgestellt oder sonst irgend etwas postuliert, was im allgemeinen Sprachgebrauch dann mit der Metapher der neu zu schreibenden …-Geschichte rezipiert wird. Was dort in Leicester geschah, fällt unter “angewandte Wissenschaften” – so weit ich es beurteilen kann, war keine der Methoden, die dabei verwendet wurden, neu oder unerprobt. Und die Arbeit der Wissenschaftler war gründlich und umfassend: Es wäre sicher schon genug der Versuchung gewesen, bereits beim Fund des deformierten Skeletts die Angelegenheit als geklärt zu betrachten. Aber die Identifikation über 17 oder 18 Generationen hinweg (kommt halt drauf an, wie man zählt) war ein forensisches Meisterstück. Und ebenso wenig wie man beispielsweise in einem Schauprozess die forensischen Exerten kritisieren (oder gar der Unwissenschaftlichkeit bezichtigen) würde, wenn sie eine Identifikation von Opfer oder Täter verkünden, ohne diese vorher der Peer Review unterworfen zu haben, ebenso wenig sollte man hier dies zum Maßstab der Wissenschaftlichkeit machen.
Das Resultat ist für die Öffentlichkeit – die ja, in Form der Gemeinde Leicester, auch direkt an dem Projekt beteiligt war – sicher wichtiger und spannender, als für die Wissenschaft; die kulturelle Bedeutung ist kaum zu unterüberschätzen. (Mal sehen, ob und wie sich das neue Wissen beispielsweise auf die künftigen Inszenierungen von Shakespeares Königsdrama auswirkt.) Und daher ist es auch gut so, dass die Öffentlichkeit daran teilhaben darf. Und wie ich gerade feststellen kann, bin ich mit dieser Ansicht nicht alleine: Das Magazin nature hat in seiner aktuellen Ausgabe ein Editorial, das im Prinzip zum gleichen Schluss kommt: Body of evidence – The identification of a long-dead king is not simply an academic event.
Foto: Rekonstruktion des Gesichts von Richard III; University of Dundee/Richard III Society
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