Das Gegenteil von gut gemacht, so sagt man, ist gut gemeint. Und gut gemeint sind die neuen Didaktischen Empfehlungen zu Diversität und Lehre der Freien Universität Berlin gewiss. Wie essentiell Diversität für die Studienkultur ist, erlebe ich ja am Massachusetts Institute of Technology im täglichen Umgang mit Studentinnen und Studenten; dass deutsche Unis sich darüber Gedanken machen, ist definitiv lobenswert. Dass dabei auch die Kategorie “Bildungshintergrund (Nicht-Akademiker Familien)” (der Koppelungsfehler bei den Nicht-Akademiker-Familien entstammt dem Original) gleich an erster Stelle steht, hat mich zwar spontan etwas stutzig gemacht, aber die Begründung hat dann schon wieder etwas Schlüssiges: Junge Menschen aus Familien, in denen bisher noch niemand einen akademischen Abschluss erreicht oder wenigstens ein Studium begonnen hat, seien auch heute noch stark unterrepräsentiert – lediglich 15 Prozent aller in Deutschland immatrikulierten Studentinnen und Studenten stammen aus, um’s mal schlichter zu sagen, Arbeiterfamilien.
Die Aufnahme eines Studiums ist hier oftmals ein Wagnis. Mangelnde finanzielle oder ideelle Unterstützung durch das Elternhaus, Vorbehalte gegenüber dem beruflichen Nutzen eines Studiums und Schwierigkeiten mit Konkurrenzdruck unter Studentinnen und Studenten können das Studium gravierend beeinträchtigen. Beispielsweise zweifeln Studentinnen und Studenten aus Nicht-Akademiker-Haushalten verstärkt, ob sie an eine Hochschule gehören bzw. dort akzeptiert werden und die entsprechenden Voraussetzungen für ein Studium mitbringen.
Stimmt, das Problem kenne ich. Mein Bruder, ein Cousin und ich waren die ersten in der gesamten großen Blue-Collar-Verwandschaft, die sich ans Gymnasium wagten (sollte ich hier mal erwähnen, dass die Verwandschaft wirklich riesig war – mein Großvater väterlicherseits hatte 17 Geschwister, meine Großmutter brachte noch einmal zwölf Großonkel und -Tanten mit). Und das Verständnis dafür war in einer reichen Industriestadt wie Schweinfurt, wo selbst einfache Fabrikarbeiter dank Landbesitz und sparsamem Lebensstil zumindest auf dem Papier zu Millionären werden konnten, auch eher unterentwickelt: Wozu studieren, wenn man mit 16 schon Geld verdienen kann?
Trotz BAFöG mussten meine Eltern (ohne Landbesitz, nicht vermögend, aber in der Industrie beschäftigt) noch kräftig zuschießen, damit ich mir das teure München als Studienort leisten konnte; bei zwei erwachsenen Söhnen, die ihnen auf der Tasche lagen, keine Kleinigkeit. An ein Auslandsstudium hätte ich da gar nicht zu denken gewagt, und so manche Exkursion – Pflichtveranstaltung im Geographiestudium – erforderte eine Menge an Planung und Rechnerei. Also klar, wenn die Uni ihr Diversitätskonzept auf die wirtschaftliche Lage der (ich sag’s mal noch härter) Unterschicht-Kinder ausrichtet und zum Beispiel darüber nachdenkt, wie auch weniger Betuchte an teure Lernmittel wie Laptops etc. rankommen können, dann soll mir das Recht sein.
Doch halt! Darum geht es ja gar nicht: Die didaktischen Empfehlungen sehen nämlich so aus:
Besser fördern und integrieren können Sie diese Studentinnen und Studenten, indem Sie
- versuchen, Studentinnen und Studenten die Angst vor Redebeiträgen zu nehmen, sie zu Diskussionen ermutigen und jeden Redebeitrag – unabhängig von der Qualität – wertschätzen.in Ihrem Kurs eine Atmosphäre schaffen, in der es keine „dummen“ Fragen gibt.
- Gruppenarbeiten fördern, da dort die Hemmschwelle für Redebeiträge geringer ist.
- akademische Fach- und Fremdwörter unaufgefordert definieren.
- eindeutige und transparente Anleitungen zur Vorbereitung und Durchführung von Prüfungen geben, ggf. in schriftlicher Form.
- diese Studentinnen und Studenten an der Strukturierung der Stunde beteiligen.
- Studentinnen und Studenten eine eventuelle Ehrfurcht vor der akademischen Welt nehmen.
- sie zu Auslandsaufenthalten und weiterführenden Studien motivieren.
- eine Beratung bei der Planung des Studiums (bspw. für die nächsten zwei Semester) anbieten.
- die Studentinnen und Studenten bestärken, dass sie in der Hochschule genau am richtigen Ort sind, sich für das richtige Studienfach entschieden haben und über genügend Leistungsfähigkeit verfügen.
- auf interne Angebote der Freien Universität zur Studienunterstützung verweisen (siehe Beratungsangebote).
Meinen die das ernst, oder ist da ein Aprilscherz (wenn auch ein schlechter) zum falschen Zeitpunkt freigeschaltet worden? Die Herablassung, die hier zum Ausdruck kommt, verschlug mir erst mal die Sprache. Glauben die wirklich, dass Arbeiterkinder dümmer sind – oder zumindest dümmer daher reden – als der Akademiker-Nachwuchs? Dass man mit denen behutsam umgehen muss, weil sie sich halt nicht so gut ausdrücken können? Dass man von ihnen erwarten muss, dass sie Fremdwörter nicht so ohne weiteres verstehen, und dass auch nicht so recht wissen, was eine Uni ist und wie man sich dort verhält?
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